Der Untergang
erscheinen, und alles Misstrauen in seinen Augen konnte nicht über den
freundlichen Ausdruck hinwegtäuschen, der normalerweise darin wohnte. Wer oder was auch immer
dieser Bursche war - er war Andrej auf Anhieb sympathisch.
»Nein, das will ich wirklich nicht«, antwortete er. »Ich möchte eigentlich niemanden zum Feind haben,
wenn ich es mir recht überlege, weißt du?« Er bewegte sich ein wenig. »Hast du etwas dagegen, wenn ich
mich aufsetze? Es ist nicht sehr bequem so.«
Zögernd ließ der Junge die Hand mit dem Messer sinken, dann nickte er. »Meinetwegen, aber mach keine
Dummheiten. Und frag erst gar nicht - ich werde dich ganz bestimmt nicht losbinden.«
Das war auch nicht nötig. Andrej hatte längst mit den Fingerspitzen über seine Fesseln getastet und
festgestellt, dass die Stricke zwar fest, aber mit einem herkömmlichen Knoten zusammengebunden waren.
Abu Dun hatte ihm schon vor Jahren gezeigt, wie man eine solche Fessel mit ein paar geschickten
Bewegungen und einem entschlossenen Ruck abstreifen konnte. Andrej spielte den Enttäuschten,
während er sich - umständlicher als nötig - aufsetzte und ein kleines Stück vom Feuer wegrutschte.
Zugleich sah er sich verstohlen um.
Wie erwartet befand er sich in einem Lager, in dem gleich mehrere Feuer brannten. Die flackernden roten
Inseln aus Licht vertieften die Dunkelheit noch, sodass selbst er nur Schatten und vage Umrisse
wahrnehmen konnte. Immerhin erkannte er, dass das Lager deutlich größer war, als er im ersten Moment
angenommen hatte. Er sah eine Anzahl von Zelten und einige schwere, hohe Wagen mit fast mannsgroßen
Rädern. In einigen wenigen brannte Licht, die meisten aber waren dunkel. Der Himmel war bewölkt,
sodass der Mond nicht zu erkennen war, aber Andrej spürte, dass Mitternacht längst vorüber sein musste.
Weit entfernt gewahrte er eine improvisierte Pferdekoppel, auf der mindestens zwei Dutzend Tiere
untergebracht waren.
»Wo bin ich hier?«, fragte er. »Abgesehen davon, dass ich bei Leuten bin, die ich nicht zu Feinden haben
möchte?«
Er konnte sehen, wie schwer es seinem Gegenüber fiel, ihn weiter grimmig anzustarren. »In unserem
Lager.«
»Und wer seid Ihr?«, präzisierte Andrej seine Frage. »Bin ich unter Freunden oder Feinden?«
»Das kommt ganz auf dich an«, erwiderte sein Gegenüber.
Anscheinend liebte er es, sich kryptisch auszudrücken.
»Also, wenn ich die Wahl habe, fällt mir die Entscheidung nicht schwer.« Andrej zog eine Grimasse und
rückte ein kleines Stückchen weiter vom Feuer weg. Die Hitze begann allmählich wirklich unangenehm zu
werden. »Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?«, fragte er.
»Ich bin Rason«, antwortete der Bursche. »Und jetzt hör auf, so viele Fragen zu stellen. Ich bringe dich
gleich zu jemandem, der dir alles sagen wird, was du wissen musst.« Er beugte sich so überraschend vor,
dass Andrej die Bewegung um ein Haar als Angriff missverstanden und entsprechend reagiert hätte. Ein
Dolch blitzte auf, und Andrejs Füße waren frei. »Komm.«
Andrej erhob sich und stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu
bringen.
»Rason, soso. Und was ist mit meinem Freund?«
»Der Muselmann?« Rason grinste, und Andrej war klar, dass er dieses Wort bewusst gewählt hatte. In der
Dunkelheit schimmerten seine Zähne fast unnatürlich weiß. »Der ist ein bisschen zerrupft, aber es geht
ihm gut, glaube ich. Er wartet auf dich.«
Irgendwo in der Dunkelheit nahe der Pferdekoppel wurden plötzlich Stimmen laut. Andrej verstand die
Worte nicht, aber es klang wie ein Streit. Er sah einen Moment lang mit gerunzelter Stirn in die Richtung,
aus der der Lärm kam, dann wandte er sich wieder zu Rason um.
»Mach mich los«, verlangte er. »Das ist albern. Und ziemlich unbequem.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Du hast doch selbst gesagt, dass es meine Entscheidung ist, ob wir Freunde oder Feinde sind«, antwortete
Andrej. »Nun, ich habe gerade entschieden, dass wir keine Feinde sind.«
Diesmal grinste Rason nicht. Er sah eher erschrocken aus.
Einige Herzschläge lang schien er über die Worte nachzudenken, dann trat er zu Andrejs Überraschung
hinter ihn und durchtrennte auch die Stricke um seine Handgelenke.
Verblüfft starrte Andrej den schwarzhaarigen Burschen an, während er damit begann, seine Unterarme zu
massieren.
»Wie du gesagt hast«, bemerkte Rason. »Es ist deine Entscheidung.«
»Ich werd nicht schlau aus dir«, murmelte Andrej. »Und ich kann mich des
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