Der Untergang
Eindrucks nicht erwehren,
dass das deine Absicht ist.«
Ein Grinsen schlich sich in Rasons Gesicht. Er schob den Dolch unter die breite Schärpe, die er anstelle
eines Gürtels trug, und machte eine einladende Geste. »Wollen wir hier herumstehen bis es hell wird, oder
willst du stattdessen deinen Freund sehen?«
Andrej kapitulierte. Ob Rason nun einfach dumm war oder ihn auf den Arm nahm, das Ergebnis blieb
dasselbe: Sie verschwendeten ihre Zeit. Wortlos setzte er sich in Bewegung und warf Rason dabei einen
fragenden Blick zu.
Das Lager wurde gebildet aus zwei ineinander liegenden Kreisen, von denen der äußere aus Zelten, der
Pferdekoppel und einer Anzahl hölzerner Gestelle bestand, auf denen Felle und Decken zum Trocknen
aufgespannt worden waren, und der innere aus gut einem Dutzend der schweren vierrädrigen Karren, die
Andrej schon gesehen hatte. Die Nacht hatte fast alle Farben ausgelöscht, doch Andrejs überscharfe
Augen verrieten ihm, dass die meisten Fuhrwerke kunterbunt sein mussten.
Und plötzlich wusste er, wo er war. Verblüfft blieb er stehen.
»Ihr seid Zigeuner!«
Auch Rason hielt mitten im Schritt inne und sah ihn stirnrunzelnd an.
»Entschuldige«, sagte Andrej rasch. »Ich weiß, ihr hört dieses Wort nicht gern, aber …«
Rason unterbrach ihn mit einer Geste. »Jedermann nennt uns so, also warum nicht auch du? Ich wundere
mich nur über dein Erstaunen. Wo ihr doch so lange nach uns gesucht habt.«
»Woher weißt du das?«
Der ernste Ausdruck verschwand schlagartig von Rasons Gesicht und machte wieder dem gewohnten
Grinsen Platz.
»Weißt du denn nicht, dass wir Zigeuner über das Zweite Gesicht verfügen?«, fragte er. »Natürlich nur die
von uns, die nicht den Bösen Blick haben.«
»Oh ja«, antwortete Andrej. »Das hatte ich fast vergessen.«
Sie gingen weiter. Rason führte ihn an den Wagen vorbei, fast bis ans andere Ende des Lagers, wo es
einen besonders großen, allerdings sehr schlicht gehaltenen Karren gab, der anstelle der üblichen vier über
sechs Räder verfügte. Hinter einem schmalen, vergitterten Fenster in der Tür, zu der eine dreistufige
Trittleiter hinaufführte, flackerte dunkelgelbes Licht. Im Schatten auf der anderen Seite des Wagens
verbargen sich mindestens zwei Personen. Andrej konnte ihre Atemzüge hören und auch das Geräusch
von Metall, das an Stoff oder Leder scheuert.
Anscheinend waren Rasons Leute doch nicht so vertrauensselig, wie er selbst den Anschein zu erwecken
versuchte.
»Dein Freund ist im Wagen.« Rason deutete zur Tür. »Ich warte hier draußen.«
»Zusammen mit deinen Kameraden, nehme ich an.« Die Worte taten Andrej bereits , bevor er sie
ausgesprochen hatte.
Mittlerweile war er überzeugt davon, dass diese Leute ihm nichts Böses anhaben wollten. Er lächelte, um
dem Gesagten wenigstens etwas von seiner Schärfe zu nehmen, dann ging er rasch die drei Stufen hinauf
und betrat den Wagen.
Der warme Schein zweier fast heruntergebrannter Kerzen und ein verwirrendes Gemisch aus
unterschiedlichsten Gerüchen empfingen ihn. Es duftete nach Kräutern und Öl, aber auch nach
gebratenem Fleisch und frischem Obst. Ganz schwach mischte sich etwas Säuerliches, nicht sehr
Angenehmes, darunter. Wer immer diesen Wagen bewohnte, legte entweder keinen besonderen Wert auf
Reinlichkeit, oder er war sehr alt.
Die beiden einzigen Personen jedoch, die Andrej erblickte, waren Abu Dun und ein weiterer Sinti, der
kaum älter sein konnte als Rason. Die beiden unterhielten sich, als Andrej eintrat, unterbrachen ihr
Gespräch aber sofort und wandten sich zu ihm um. Andrej nickte dem jungen Mann flüchtig zu, dann
konzentrierte er sich ganz auf Abu Dun.
Der Nubier bot einen Anblick, von dem Andrej nicht sagen konnte, ob er nun Mitleid erregend oder
lächerlich war. Er hatte seinen schwarzen Kaftan und auch das Hemd ausgezogen und saß, nur mit seinen
schwarzen Pluderhosen und Halbstiefeln bekleidet, auf der einen Seite eines niedrigen Tischchens, auf
dem außer den beiden Kerzen ein bauchiger Weinkrug und zwei Becher standen. Seine gewaltigen
Muskelpakete glänzten im Licht der beiden Kerzen wie frisch geöltes Leder, aber Andrej sah auch die
zahllosen Kratzer, Schrammen und Schnitte, die Abu Dun davongetragen hatte. Die meisten waren bereits
verschorft, was ihm sagte, dass er selbst tatsächlich ungewöhnlich lange ohne Bewusstsein gewesen sein
musste. Sowohl um Abu Duns Unterarme als auch um seinen Bauch spannten sich saubere, straff
angelegte Verbände. Ein weiterer Wickel
Weitere Kostenlose Bücher