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Der Untergang

Der Untergang

Titel: Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Wageninnere mit mehr Schatten als Licht, sodass er nur vage Umrisse
erkennen konnte. Es gab einen niedrigen Diwan, der mit zahllosen, bunt bestickten Decken und Kissen
belegt war, und an den Wänden hingen Bilder, Stickereien und geschnitzte Heiligenfiguren. Der Raum war
deutlich kleiner, als Andrej beim Anblick des Wagens vermutet hätte, und es dauerte eine ganze Weile, bis
er die Umrisse einer Tür in der rückwärtigen Wand entdeckte. Offensichtlich führte sie zu einem zweiten
Raum.
Andrej lauschte. Nicht nur mit seinen menschlichen Sinnen.
Er hätte gespürt, wenn außer ihnen noch jemand im Wagen gewesen wäre. Und für einen Moment schien
es, als nehme er etwas in dieser Richtung wahr. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass er sich geirrt
haben musste. Sie waren allein.
»Abu Dun, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, sagte er schließlich ruhig. »Wo sind wir hier? Was sind
das für Leute?
Und wieso haben sie uns geholfen?«
»Das fragst du sie am besten selbst«, kicherte Abu Dun.
»Was zum Teufel… ?«
In diesem Moment wurde die Tür des zweiten Raums geöffnet und eine schmale, gebeugte Gestalt trat ein.
Andrej fuhr so erschrocken zusammen, dass er etwas von seinem Wein verschüttete. Blutrot glitzerten die
Tropfen auf der fleckigen Tischplatte, und sein Herz begann zu hämmern.
Was er sah, konnte unmöglich sein. Bei der Person, die hereingekommen war, handelte es sich
offensichtlich um eine Frau, obwohl sie so gebückt ging, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aber
sie hätte nicht da sein dürfen! Er hätte es spüren müssen, dass außer ihnen noch jemand im Wagen war.
Und doch nahm er die Anwesenheit der Alten noch nicht einmal jetzt wahr, da er sie mit eigenen Augen
sah!
Er wollte aufstehen, aber die alte Frau schüttelte den Kopf und kam mit schlurfenden Schritten näher.
Erst, als sie den Tisch erreicht hatte, wurde ihr Antlitz vom flackernden Lichtschein der Kerzen erhellt,
und Andrej erblickte die Züge des ältesten Menschen, dem er jemals begegnet war.
Obwohl ihr Haar, das ihr in langen, dünnen Strähnen ins Gesicht und bis weit auf die Brust fiel, noch
immer von satter, schwarzer Farbe war, schätzte Andrej ihr Alter auf mindestens hundert Jahre. Ihr
Gesicht war eine Landschaft aus Runzeln und so tiefen Falten, dass sie wie Messerschnitte wirkten. Die
Lippen waren nicht mehr als solche auszumachen, und in dem eingefallenen Mund waren wahrscheinlich
schon seit Jahrzehnten keine Zähne mehr. Ihr Gesicht musste in jungen Jahren voll gewesen sein, doch
jetzt stachen die Jochbeine durch die trockene Pergamenthaut über ihren hohlen Wangen hervor, und die
scharfe Hakennase musste im Laufe ihres Lebens gleich mehrmals gebrochen gewesen sein.
Das Schlimmste aber waren die Augen. So wenig, wie Andrej einen Lebensfunken in der alten Frau
spürte, so wenig konnte er irgend etwas in den trüben, grauen Spiegeln ihrer Seele sehen.
Die alte Zigeunerin war blind. »Hast du mich jetzt lange genug angestarrt, Andrej Delãny?«, fragte die
Greisin. Ihre Stimme war so dünn und trocken wie die Haut auf ihren Händen.
»Du … kennst meinen Namen?«, fragte Andrej stockend. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen.
Irgendetwas ging von dieser blinden Zigeunerin aus, das ihn frösteln ließ.
»Dein Freund da hat ihn mir verraten.« Eine dürre Klaue deutete auf Abu Dun. »Er hat mir auch verraten,
dass du mir eine Menge Fragen stellen willst. Also hör auf, mich anzustarren. Ich weiß selbst, wie hässlich
ich bin. Mit einhundertundacht Jahren muss man nicht mehr schön sein. Jetzt gieß mir einen Becher Wein
ein, und dann frage, was du zu fragen hast.«
»Fragen?« Andrej warf Abu Dun einen verwirrten Blick zu, erntete aber nur ein weiteres, schadenfrohes
Grinsen.
»Ich nehme doch an, dass du etwas von mir wissen willst«, bestätigte die Alte. »Warum sonst habt ihr so
lange nach mir gesucht?«
»Nach dir?« Andrej sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du bist…«
»Ich bin Anka«, sagte die Zigeunerin.
Die Puuri Dan hatte sich gesetzt - nicht auf den mit Kissen und Decken überladenen Diwan, wie Andrej
erwartet hatte, sondern auf einen Stuhl, den Abu Dun auf ihr Geheiß hin herbeigeholt hatte - und ihre
Bitte um Wein wiederholt. Erst, nachdem sie einen gewaltigen Schluck von dem starken Getränk zu sich
genommen hatte, wandte sie sich wieder in Andrejs Richtung, und ein Lächeln erschien auf ihrem vom
Alter gezeichneten Gesicht.
»Manchmal bedaure ich es, nicht sehen zu können«, sagte

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