Der Untertan
Dichter, es strebt modernen und praktischen Zielen zu.« Der Alte kehrte aus seinen Gedanken zurück, er deutete nach der Zimmerecke. »Damals war die ganze Stadt bei mir zu Hause. Jetzt ist es so einsam wie nie, zuletzt ging noch Wolfgang fort. Ich würde alles dahingehen, aber, junger Mann, wir sollen Respekt haben vor unserer Vergangenheit — auch wenn wir besiegt worden sind.«
»Zweifellos«, sagte Diederich. »Und dann sind Sie immer noch der mächtigste Mann in der Stadt. Die Stadt, sagt man immer, gehört dem Herrn Buck.«
»Das will ich aber gar nicht, ich will, daß sie sich selbst gehört.« Er atmete tief auf. »Das ist eine weitläufige Sache, Sie werden sie allmählich kennenlernen, wenn Sie Einblick in unsere Verwaltung bekommen. Wir werden nämlich jeden Tag heftiger bedrängt von der Regierung und ihren junkerlichen Auftraggebern. Heute will man uns zwingen, den Gutsbesitzern, die uns keine Steuern zahlen, unser Licht zu geben, morgen werden wir ihnen Straßen bauen müssen. Zuletzt geht es um unsere Selbstverwaltung. Sie werden sehen, wir leben in einer belagerten Stadt.«
Diederich lächelte überlegen. »So schlimm kann es wohl nicht sein, denn unser Kaiser ist doch eine so moderne Persönlichkeit.«
»Nun ja«, sagte der alte Buck. Er erhob sich, wiegte den Kopf — und dann zog er es vor, zu schweigen. Er reichte Diederich die Hand.
»Mein lieber Doktor, Ihre Freundschaft wird mir geradeso wertvoll sein, als die Ihres Vaters mir war. Nach unserer Unterredung habe ich die Hoffnung, daß wir in allem einig gehen werden.«
Unter dem warmen blauen Blick des Alten schlug Diederich sich auf die Brust. »Ich bin ein durchaus liberaler Mann!«
»Vor allem warne ich Sie vor dem Regierungspräsidenten von Wulckow. Er ist der Feind, der uns hier in die Stadt gesetzt worden ist. Der Magistrat unterhält nur die unumgänglichen Beziehungen zum Präsidenten. Ich selbst habe die Ehre, von dem Herrn nicht gegrüßt zu werden.«
»Oh!« machte Diederich, ehrlich erschüttert.
Der alte Buck öffnete ihm schon die Tür, schien aber noch etwas zu überlegen. »Warten Sie!« Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bückte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das errötet war. »Da, nehmen Sie! Es sind meine ›Sturmglocken‹! Man war auch Dichter — damals.« Und er schob Diederich sanft hinaus.
Die Fleischhauergrube stieg beträchtlich an, aber Diederich schnaufte nicht nur deshalb. Nachdem er zuerst nur eine gewisse Betäubung empfunden hatte, stellte sich allmählich das Gefühl heraus, daß er sich habe verblüffen lassen. ›So ein alter Schwätzer ist doch bloß noch eine Vogelscheuche, und mir imponiert er!‹ Unbestimmt gedachte er der Kinderzeit, als ihm der alte Herr Buck, der zum Tode verurteilt worden war, ebensoviel Hochachtung und ein ähnliches Grausen einflößte wie der Polizist an der Ecke oder das Burggespenst. ›Werd ich denn ewig so weich bleiben? Ein anderer hätte sich nicht so behandeln lassen!‹ Auch konnte es peinliche Folgen haben, daß er zu so vielen kompromittierenden Reden geschwiegen oder nur matt widersprochen hatte. Er legte sich energische Antworten zurecht, für das nächste Mal. ›Das Ganze war eine Falle! Er hat mich einfangen und unschädlich machen wollen... Aber er soll sehen!‹ Diederich ballte die Faust in der Tasche, indes er stramm durch die Kaiser-Wilhelm-Straße ging. ›Vorläufig muß man sich noch mit ihm verhalten, aber wehe, wenn ich der Stärkere bin!‹
Das Haus des Bürgermeisters war mit Ölfarbe neu gestrichen, und die Spiegelscheiben glänzten wie je. Ein nettes Stubenmädchen empfing ihn. Über eine Treppe mit einem freundlichen Knaben aus Biskuit, der eine Lampe trug, und durch ein Vorzimmer, worin fast vor jedem Möbel ein kleiner Teppich lag, ward Diederich in das Eßzimmer geführt. Es war aus hellem Holz mit appetitlichen Bildern, zwischen denen der Bürgermeister und noch ein Herr beim zweiten Frühstück saßen. Doktor Scheffelweis reichte Diederich seine weißliche Hand hin und musterte ihn dabei über den Klemmer weg. Trotzdem wußte man nie genau, ob er einen ansah, so unbestimmt war der Blick seiner Augen, die farblos schienen wie das Gesicht und die seitwärts fliehenden, dünnen Bartkotelettes. Der Bürgermeister setzte mehrmals zum Sprechen an, bis er endlich etwas fand, das man auf alle Fälle sagen
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