Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Raum und grüßte Marc im Vorbeigehen. Louis hatte sich nachdenklich hingesetzt. Die Baracke erschütterte immer ein wenig seine Maßstäbe für Normalität.
»Er schläft«, sagte Marc leise und zeigte auf die Tür zu dem kleinen Zimmer.
»Ich weiß«, sagte Louis, ganz automatisch ebenfalls flüsternd. »Bei euch ist gestern abend nicht zufällig was übriggeblieben?«
»Wie, übriggeblieben?« fragte Marc überrascht.
»Gratin.«
»Ach, von dem Gratin. Doch, im Kühlschrank ist noch eine große Portion. Soll ich dir was warm machen?«
»Gern«, sagte Louis mit einem befriedigten Seufzen.
»Magst du einen Kaffee dazu? Ich mach welchen.«
»Gern«, wiederholte Louis.
Er sah sich um. Ja, der große Raum mit seinen hohen Rundbogenfenstern hatte etwas Klösterliches. Heute, im Dämmerlicht, das durch die Ritzen der geschlossenen Läden drang, und bei dem Flüstern ihrer Stimmen war dieser Eindruck noch stärker.
»Es ist im Ofen«, sagte Marc. »Hast du die Zeitung gesehen?«
»Ja, habe ich.«
»Die arme Marthe wird sich ganz schön Sorgen um ihr Püppchen machen. Ich werde sie gleich nach dem Putzen holen. Dann holen wir auch das Akkordeon.«
»Kommt gar nicht in Frage, daß er hier spielt, Marc.«
»Ich weiß. Es ist nur für die Stimmung.«
»Weck ihn. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Marc betrat leise das Zimmer, aber Clement schlief nicht. Er lag auf dem Bett, die Arme ausgestreckt, und sah auf das geschlossene Fenster.
»Komm«, sagte Marc. »Wir werden noch mal reden.«
Clement setzte sich Louis gegenüber, die Beine unter seinen Stuhl geklemmt, die Füße um die Stuhlbeine geschlungen. Marc brachte den Kaffee und stellte Louis das Gratin hin.
»Dieses Mal wirst du uns helfen müssen, Clement«, sagte Louis. »Und zwar hiermit«, fügte er hinzu und zeigte auf seine Stirn. »Hast du dein Gesicht in den Zeitungen gesehen? Ganz Paris ist hinter dir her. Ganz Paris, bis auf sechs Menschen: einer, der dich liebt, und fünf, die versuchen, dir zu glauben. Kannst du mir folgen?«
Clement nickte.
»Clement, wenn du mir nicht folgen kannst, gib mir ein Zeichen. Zögere nicht, es ist nichts dabei, wie Marthe sagen würde. Die Erde ist voll von schrecklich intelligenten Typen, die dabei richtige Dreckskerle sind. Wenn du was nicht verstehst, heb die Hand. So.«
Clement nickte erneut, und Louis nutzte die Pause, um ein paar Happen Gratin hinunterzuschlingen.
»Hör zu«, fuhr Louis mit vollem Mund fort. »Da gibt es, klein a, einen Typen, der dir eine Arbeit aufträgt. Aber das war, klein b, eine große Mannschaft.«
»Machenschaft«, sagte Clement.
»Machenschaft«, wiederholte Louis und dachte sich, daß Clement schneller lernte, als gedacht. »Klein c, du riskierst jetzt, anstelle dieses Typen verurteilt zu werden. Dieser Typ ist der Typ, der dich in Nevers angerufen hat, und der Typ, der dich im Hotel angerufen hat. Denk nach. Kanntest du seine Stimme?«
Clement legte den Finger an die Nase und senkte den Kopf. Louis aß.
»Nein. Nicht persönlich.«
»War es die Stimme eines Unbekannten?«
»Ich weiß nicht. Ich selbst hab ihn nicht erkannt, aber ob es wirklich ein Unbekannter war, das weiß ich nicht.«
»O. k. Laß es sein. Klein c ...«
»Klein c hattest du schon«, flüsterte Marc. »Du bringst ihn durcheinander.«
»Mist«, sagte Louis. »Klein d: Es kann sein, daß dieser Typ dich kennt und dir etwas auf den Tod übelnimmt.«
Clement zögerte, dann hob er die Hand.
»Klein d«, wiederholte Louis geduldig, »es ist möglich, daß dieser Typ dich absichtlich ärgert, weil er dich haßt.«
»Ja«, sagte Clement, »ich verstehe.«
»Also, klein e: Wer haßt dich?«
»Niemand«, erwiderte Clement sofort, den Finger wieder an seiner Nase. »Ich habe auch ebenfalls ganz persönlich die ganze Nacht darüber nachgedacht.«
»Ach? Du hast darüber nachgedacht?«
»Ich habe an die Stimme vom Telefon gedacht und daran, wer mir Böses tut.«
»Und du sagst, daß niemand dir übelwill?«
Clement hob die Hand.
»Daß niemand dich haßt?«
»Niemand. Außer vielleicht ... Es sei denn ... da gibt es vielleicht meinen Vater.«
Louis stand auf, ging zur Spüle und wusch seinen Teller ab.
»Dein Vater? Das ist nicht dumm, was du sagst. Wo ist dein Vater?«
»Er ist seit vielen Jahren tot.«
»Gut«, sagte Louis und setzte sich wieder. »Und deine Mutter?«
»Sie ist in Spanien im Ausland.«
»Hat dein Vater dir das gesagt?«
»Ja. Sie hat uns verlassen, als ich noch nicht
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