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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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seine Finger zur Hilfe. Heute war der 8. Juli. Die erste Frau war am Donnerstag, dem 21. Juni ermordet worden, die zweite zehn Tage später, am Sonntag, dem 1. Juli, und die dritte sechs Tage später. Der Mörder folgte einem schnellen Rhythmus. Ein weiterer Mord konnte am Freitag geschehen oder sogar schon früher. In jedem Fall blieb nicht viel Zeit.
    Louis sah auf den Wecker. Drei Uhr. Er konnte es sich nicht mehr leisten, alles zu Fuß zu erledigen, er würde das Auto nehmen. Er schloß die drei Schlösser der Tür zu seinem Büro ab und ging rasch die zwei Stockwerke hinunter. Während er in der dunklen Eingangshalle des Gebäudes die schwere Tür aufstieß, sagte er halblaut vor sich hm:
    »In Grabesnacht, Du, die ein Trost mir war ...« Bewußt wurde ihm das erst, als er die heiße Straße entlangging. Der Satz entstammte geradewegs diesem Nerval-Gedicht, da war er sich sicher. In Grabesnacht, Du, die ein Trost mir war ... Ja, sicher. Aber Lucien hatte sie nicht vorgelesen, sie war aus einer anderen Strophe, sicherlich der zweiten. Er lächelte, als er über die dunklen Mechanismen der Erinnerung nachdachte. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren hatte er kein solches Buch und schon gar keinen Nerval mehr aufgeschlagen, aber in dieser turbulenten Situation zeigte sein Gedächtnis ihm ein kleines Fragment, wie eine Blume, die einen Schiffbruch überstanden hat. Eine traurige Blume, um die Wahrheit zu sagen. In diesem Augenblick wurde Louis sich bewußt, daß er nicht in der Lage war, Loisel die ersten vier Verse korrekt aufzusagen, und er mußte doch zumindest das Versprechen halten, das er Lucien gegeben hatte. Er machte also einen langen Umweg, bis er eine Buchhandlung fand, die sonntags geöffnet hatte, und begab sich dann auf den Friedhof von Montparnasse.
    Am Tag wirkte der Ort anders, aber nicht viel fröhlicher. Er spürte den ›Schnitter‹ auf, der in der abgelegensten Ecke des dreieckigen Friedhofsteils, an ein Grabmal gelehnt, im Schatten döste. Beruhigt ging er auf den anderen, den größeren Teil des Friedhofs und untersuchte aufmerksam die Bäume. Er brauchte eine gewisse Zeit, bevor er auf den Stämmen Einschnitte fand, die den von Clement beschriebenen ähnelten. Hier und da, etwa an jedem fünfzehnten Baum, hatten nicht sehr tiefe, aber wiederholte und wütende Einkerbungen die Rinde zerschnitten. Manche waren alt und vernarbt, andere jünger, aber keine war ganz frisch. Louis ging langsam wieder zu der Ecke, in der der ›Schnitter‹ sich niedergelassen hatte. Er mußte ihn mehrmals mit der Fußspitze anstupsen, bevor er die Augen öffnete und aufschreckte.
    »Salut«, sagte Louis. »Ich habe dir ja gesagt, daß ich wieder vorbeikommen würde.«
    Thevenin stützte sich auf einen Ellbogen und sah Louis aus seinem roten und verknitterten Gesicht mißtrauisch an, ohne etwas zu sagen.
    »Ich habe dir was zu trinken mitgebracht.«
    Der Mann erhob sich linkisch, klopfte kurz seine Kleidung ab und streckte die Hand nach der Flasche aus.
    »Du willst mich zum Reden bringen, was?« fragte er und kniff die Augen zusammen.
    »Natürlich. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich meine Kohle auf den Kopf haue, um dir einen Gefallen zu tun, wie? Setz dich wieder.«
    Wie am Vortag legte Louis seine Hand auf Thevenins Schulter und drückte so lange, bis der Mann auf dem Boden saß. Wegen seines Knies konnte Louis sich nicht auf den Boden setzen, und er wollte es auch nicht. Er machte es sich, halb sitzend, halb stehend, auf der Kante eines aufgerichteten Grabsteins bequem. Thevenin feixte höhnisch.
    »Da hast du dich aber geschnitten«, sagte er. »Je mehr ich trinke, desto klarer bin ich.«
    »Eben«, erwiderte Louis.
    Thevenin studierte mit gerunzelter Stirn das Flaschenetikett.
    »He, sag mal, du verarschst mich doch wohl nicht. Ein Medoc!«
    Er stieß einen langen Pfiff aus und nickte bedeutungsvoll.
    »Sag bloß«, wiederholte er. »Ein Medoc!«
    »Ich mag keine Rachenputzer.«
    »Du hast ja Kohle ...«
    »Du hast mich gestern angelogen, was deine Gartenschere angeht.«
    »Stimmt nicht«, brummte der Mann und holte den Korkenzieher aus seiner Umhängetasche.
    »Woher kommen all die Einschnitte an den Bäumen?«
    »Nichts gesehen.«
    Thevenin zog den Korken und setzte die Flasche an die Lippen.
    Louis verstärkte den Druck seiner Hand auf die Schulter des ›Schnitters‹.
    »Woher kommen die?« wiederholte er.
    »Von den Katzen. Der Friedhof ist voll von ihnen. Sie wetzen sich die Krallen.«
    »Gab's im

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