Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Institut Merlin auch Katzen?«
»Haufenweise. Sag mal, du hast mich ja wirklich nicht verarscht mit deinem Medoc«, wiederholte er und klopfte mit seinem langen Fingernagel gegen die Flasche.
»Wenn einer hier einen verarscht, dann bist du es.«
»Meine Schere hab ich nicht mehr, das ist kein Witz. Ich habe sie schon mindestens einen Monat nicht mehr.«
»Vermißt du sie?«
Thevenin schien über die Frage nachzudenken, dann nahm er einen weiteren kräftigen Schluck.
»Ja«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel über die Lippen.
»Hast du inzwischen nicht vielleicht einen Ersatz gefunden?«
Der Mann zuckte wortlos mit den Achseln. Louis leerte noch einmal die Leinentasche aus und tastete dann seine Jackentaschen ab.
»Bleib hier«, sagte er und nahm die Schlüssel zu der Hütte mit.
Louis sah sich in dem Abstellraum um, in dem sich seit dem Vorabend nichts verändert hatte, und kehrte dann wieder zum ›Schnitter‹ zurück.
»Was hast du gestern nacht gemacht, nachdem ich gegangen bin?«
Der Mann schwieg beharrlich und beugte den Rücken. Louis wiederholte seine Frage.
»Scheiße«, antwortete Thevenin. »Ich hab mir die Mädchen in den Heften angesehen, hab meine Flasche leergemacht und geschlafen. Was soll ich anderes machen?«
Louis packte Thevenin mit der linken Hand am Kinn und drehte sein Gesicht rasch zu sich. Er suchte Thevenins Blick, und das erinnerte ihn an seinen Vater, wenn der ihn plötzlich gepackt und verlangt hatte: »Zeig mir deine Augen, damit ich sehe, ob du lügst.« Louis hatte sich lange Zeit vorgestellt, daß das L von Lüge oder das W von Wahrheit gegen seinen Willen deutlich in seinen Pupillen erkennbar wären. Aber die blutunterlaufenen Augen des ›Schnitters‹ verwischten jede Information.
»Warum fragst du mich das?« fragte Thevenin, das Gesicht noch immer in Louis eisernem Griff.
»Kannst du's dir nicht vorstellen?«
»Nein«, sagte der Mann und blinzelte. »Laß mich los.«
Louis stieß ihn zurück. Thevenin rieb sich die Wangen und nahm ein paar Schlucke Medoc.
»Und du?« fragte er. »Was bist du für eine Bestie? Warum machst du mir Ärger, und wie heißt du?«
»Nerval. Sagt dir das was?«
»Überhaupt nichts. Bist du ein Bulle? Nein. Du bist kein Bulle, du bist was anderes. Noch was Schlimmeres.«
»Ich bin Dichter.«
»Scheiße«, erwiderte Thevenin und stellte geräuschvoll seine Flasche auf der Erde ab. »So hab ich mir Dichter nicht vorgestellt. Du machst dich über mich lustig.«
»Nicht im geringsten. Hör dir das an.«
Louis zog das Buch aus seiner hinteren Hosentasche und las die ersten vier Zeilen des Gedichts vor.
»Ist ja nicht gerade fröhlich«, sagte der ›Schnitter‹ und kratzte sich die Arme.
Louis packte erneut das Kinn des Mannes und zog sein Gesicht diesmal langsam zu sich.
»Nichts?« fragte er und sah prüfend in die verschwommenen und geröteten Augen. »Erinnert dich das an nichts?«
»Du spinnst«, murmelte Thevenin und schloß die Augen.
25
Louis stellte sein Auto in der Rue Chasle ab und blieb noch ein paar Minuten am Steuer sitzen, ohne sich zu rühren. Der ›Schnitter‹ entzog sich ihm völlig, und es gab keine Möglichkeit, ihn besser in den Griff zu kriegen. Wenn er zu starken Druck ausübte, bekam der Typ womöglich Angst und rannte zu den Bullen. Sie würden Clement auf die Spur kommen, bevor Louis und die anderen sich auch nur einmal umgedreht hätten.
Jemand klopfte auf das Wagendach. Marc sah ihn durch das geöffnete Fenster an.
»Was wartest du da drin? Willst du dich braten lassen?«
Louis wischte sich den Schweiß von der Stirn und öffnete die Tür.
»Du hast recht. Ich weiß nicht, was ich hier drin mache. Es ist unerträglich.«
Marc nickte. Manchmal fand er Louis seltsam. Er nahm ihn am Arm und zog ihn auf der Schattenseite der Straße mit zur Baracke.
»Hast du Lucien gesprochen?«
»Ja. Ein umgänglicher Typ.«
»Manchmal«, räumte Marc ein. »Und?«
»Also, seinen Nerval, den kann man sich hierhin stecken«, sagte Louis mit ruhiger Stimme, während er sich mit der Hand auf die hintere Hosentasche schlug.
Die beiden Männer gingen mehrfach in der kleinen Rue Chasle auf und ab, bis Louis Marc erklärt hatte, warum man sich Luciens Nerval dahin stecken könnte.
Dann betraten sie die Baracke, wo Vandoosler im Refektorium, dessen Fensterläden noch immer geschlossen waren, auf Clement aufpaßte. Die alte Marthe war gekommen und spielte mit ihrem Jungen Mau-Mau.
»Hat man dich auch
Weitere Kostenlose Bücher