Der untröstliche Witwer von Montparnasse
vorsichtig sein Jackett über dem Arm.
»Schwache Fährte.«
»Ohne Zweifel. Der Typ ist nicht sehr einnehmend.«
»Meine Zeichnungen waren umsonst. Der Sehrmittelmäßigmutige-Patissier ist völlig kurzsichtig.«
»Aber die Geschichte mit der Frau ist sehr interessant, wenn sie denn stimmt.«
»Das ist alles andere als sicher. Er wirkt nicht gerade besonders aufrichtig.«
Louis zuckte mit den Schultern.
»Es gibt so Leute. Komm, wir gehen hier essen. Das ist eins der kleinen Restaurants, wo Clement abends immer gespielt hat.«
»Ich habe keinen Hunger«, sagte Marc.
»Wie war die Patisserie?«
»Wirklich gut. Als Patissier ist der Typ wirklich o. k.»
Louis suchte einen etwas abgelegenen Tisch aus.
»Sag mal«, fragte er, als er sich setzte, »was hast du eigentlich bei dem ängstlichen Patissier gezeichnet, nachdem du mit den Porträts fertig warst? Kirchen, Flüsse, Kuchen?«
»Der alte Clairmont würde dir sagen, daß all das Frauen sind. Ich habe weder die einen noch die anderen gezeichnet.«
»Also was dann?«
»Willst du's wirklich wissen?«
Marc hielt ihm den aufgeschlagenen Block hin, und Louis verzog das Gesicht.
»Was ist das denn für ein Mist? Einer von deinen ekligen kleinen Teufeln oder was?«
»Das ist die vierzigfache Vergrößerung der Fliege von Clairmont«, erklärte Marc lächelnd. »Die Fliege in seinem Helm.«
Louis schüttelte angewidert den Kopf. Marc blätterte um.
»Das hier ist eine andere vergrößerte Fliege«, erklärte er.
Louis drehte den Block erst in die eine, dann in die andere Richtung und versuchte in dem von großen weißen Flecken durchlöcherten wüsten Gewirr ineinander verschlungener Linien irgend etwas zu erkennen.
»Da erkennt man überhaupt nichts«, sagte er und gab Marc den Block zurück.
»Das liegt daran, daß sie unergründlich ist. Das ist die Fliege des Mörders.«
34
Um sechs Uhr abends war Lucien ziemlich erregt und in Eile von seinem Unterricht zurückgekommen und in den Keller gestürzt. Mathias und Clement waren hartnäckig mit einem Feuersteinknollen und einer Rolle Klebeband beschäftigt.
»Bist du soweit?« fragte Lucien.
»Wir sind gleich fertig«, erwiderte Mathias ruhig.
Lucien trommelte auf den Tisch, während der Jäger und Sammler die Klebearbeit beendete. Dann nahm Mathias den Feuerstein aus Clements Händen und legte ihn vorsichtig in eine Wanne.
»Beeil dich«, sagte Lucien.
»Nur mit der Ruhe. Hast du das Essen besorgt?«
»Ein rustikales Sandwich und einen Liter klares Wasser für dich, eine Schale indisches Huhn mit Erbsen und ein Bier für mich.«
Mathias sagte nichts und stieg die Treppe hinauf, wobei er Clement sanft vor sich her schubste.
Im Refektorium nahm Lucien den Besenstiel und klopfte heftig viermal an die Decke. Ein kleines Stück Gips fiel vor seine Füße, und Mathias machte eine unmerkliche Geste der Mißbilligung. Die Tür oben im Dachstuhl wurde geöffnet, und eine Minute später erschien Vandoosler der Ältere.
»Schon?« fragte er.
»Mir ist es lieber, wir sind schon ab sieben da«, sagte Lucien entschlossen. »Unzureichende militärische Vorbereitungen waren schon immer ein Grund für unbeschreibliche Gemetzel.«
»Sehr gut«, sagte der Pate. »Welche Straße übernimmst du?«
»Mathias postiert sich an der Rue du Soleil, ich mich an der Rue de la Lune. An der Rue du Soleil d'Or steht eben keiner. Wir sind nur zu zweit.«
»Bist du sicher?«
»Mit dem Gedicht? So sicher, wie man nur sein kann. Ich habe Zeichnungen von Marc mit den beiden Typen drauf, und er hat sie uns genauestens beschrieben.«
»Vielleicht ist es ein Unbekannter.«
Lucien schnaubte ungeduldig.
»Wir müssen unser Glück versuchen. Bist du dagegen?«
»Nicht im geringsten.«
Der Pate begleitete sie bis zur Tür, schloß hinter ihnen ab und steckte den Schlüssel ein. Heute abend würde er für lange Stunden mit Clement Vauquer allein sein.
35
Im Hotel de la Vieille Lanterne wurde nach zehn kein Frühstück mehr serviert. Louis war diese Strafe gewohnt, da er zu jener verdächtigen Spezies gehörte, die nach der vorgeschriebenen Uhrzeit aufstand, zwischen elf und zwölf Uhr mittags, der Stunde der Außenseiter, der Nachtschwärmer, der Geächteten, der Schuldigen, der Tagediebe, der Junggesellen, der Schlechtrasierten und der Unanständigen. Am Empfang wurde ihm mitgeteilt, es lägen zwei Nachrichten für ihn vor. Hastig faltete Louis den ersten Zettel auseinander und erkannte die Schrift von Marc,
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