Der Ursprung des Bösen
Stimme bereits Programm zu sein schien. Sie klang nach Glauben, Wohlwollen und Nächstenliebe. Daher hatte Janusz darauf verzichtet, sich als ermittelnder Polizist auszugeben. Statt dessen hatte er behauptet, ein ehemaliger Tippelbruder und früherer Kamerad von Fer-Blanc zu sein. Da er erfahren habe, dass sein Kumpel seine letzten Tage im Hospiz verbringe, wolle er ihn nun ein letztes Mal sehen. Nach kurzem Zögern hatte Jean-Michel ihn gebeten, am nächsten Morgen um 9.00 Uhr ins Hospiz zu kommen.
Janusz verließ das Fenster und sah sich in seinem Zimmer um. Bett, Spind und die sanitären Einrichtungen waren zusammen kaum größer als ein Schrank. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sein Spiegelbild im Schein der Neonreklame des Hotels vor dem Fenster. Er sah aus wie ein Gespenst, stank nach Abwassergrube und besaß nur noch einen einzigen Schatz: die Akte eines Mordfalls, die ihm nichts weiter verraten hatte als den Namen eines Todgeweihten.
Aber das Gespenst verspürte Hunger. Seit dem frühen Morgen hatte Janusz nichts mehr gegessen. Ob er sich nach draußen wagen konnte? Er entschied sich dafür. Ohne zu wissen, wohin er ging, wandte er sich nach links und folgte dem Licht der Straßenlaternen. An der breiten Straße reihten sich große Anwesen aneinander, deren eklektischer Stil große Erkerfenster mit klassizistischem Zierrat, maurischen Türmchen und Stuckreliefs mischte. Trotz des fantasievollen Äußeren ließ die Gesamtheit eine hochmütige Gleichgültigkeit erkennen, wie man sie auch in Norditalien oder der Schweiz finden konnte. Bei diesem Gedanken fiel Janusz auf, dass er beide Länder offenbar kannte.
In der Avenue Jean Médecin entdeckte er einen Sandwich-Laden. Er erstand ein Baguette mit Schinken, drehte sich um und flüchtete. Ohne danach gesucht zu haben, landete er auf der berühmten Promenade des Anglais. Die Gebäude an der Strandpromenade erinnerten mit ihren Kuppeln, ihren Zuckerhutdächern, ihrem kitschigen Rosa und ihrer viktorianischen Bauart an die Piers englischer Küstenstädte.
Janusz überquerte die Straße und ging an den Strand. Das Meer war in der Dunkelheit kaum zu sehen, doch er konnte es riechen, hören und fühlen. Er lief weiter, bis er sich außerhalb der Lichtkreise der Laternen befand. Im Schneidersitz ließ er sich auf dem Sand nieder. Es war kalt; trotzdem verzehrte er sein Sandwich mit grimmigem Vergnügen. Die Einsamkeit machte ihm zu schaffen. Gab es denn wirklich nirgends einen Freund oder Verbündeten für ihn? Oder eine lebendige Frau – nicht den Geist einer Erhängten? Als ihm diese Erinnerung ins Gedächtnis kam – eine der wenigen, die ihm verlässlich erschienen –, fiel ihm ein, dass sich hier möglicherweise eine Spur bot, der er unbedingt nachgehen musste.
Eine weit entfernte Polizeisirene riss ihn aus seinen Gedanken. Ob die Polizei schon wusste, dass er in Nizza war? Sicher nicht. Das Meer atmete in der Finsternis. Sein Brausen klang zwar düster, symbolisierte aber Kraft, und der Rhythmus erinnerte ihn an sein eigenes Schicksal der immerwährenden Wiederkehr.
Die Nachforschungen, die er heute anstellte, hatte er schon einmal betrieben. Vielleicht sogar mehrmals. Doch jedes Mal hatte er das Gedächtnis verloren, und jedes Mal musste er wieder bei null anfangen. Ein Sisyphus, der gegen die Uhr ankämpfte. Er musste den Schlüssel des Rätsels finden, ehe er in die nächste Krise abglitt, die alles so gründlich auslöschen würde wie eine Welle eine Inschrift im Sand.
Janusz erinnerte sich eines Werks über das Gedächtnis, das er früher einmal – wann mochte es gewesen sein ? – gelesen hatte. Es stammte von einem französischen Dichter und Philosophen des 19. Jahrhunderts. Der Mann hieß Jean-Marie Guyau und war mit dreiunddreißig Jahren an Schwindsucht gestorben. Er hatte Folgendes geschrieben:
»Gräbt man unter den vom Vesuv verschütteten Städten weiter, so findet man Spuren noch viel älterer Städte, die bereits früher verschüttet wurden und verschwunden sind … Das Gleiche ist in unserem Gehirn passiert. Unser tägliches Leben überdeckt die Vergangenheit, ohne sie auszulöschen; das frühere Leben dient im Gegenteil als Halt und verborgenes Fundament. Wenn wir in uns selbst in die Tiefe steigen, verlieren wir uns zwischen den vielen Überbleibseln …«
Janusz stand auf und ging zum Hotel zurück. Er würde in seine eigenen Katakomben hinuntersteigen und Ausgrabungen vornehmen müssen. Er wollte die toten Städte auf dem
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