Der Ursprung des Bösen
fragte Anaïs.
»Abgesehen von ihrem Namen glaube ich nicht. Mêtis ist altgriechisch und bedeutet so viel wie Scharfsinn.« Er blies eine Rauchwolke in den Lichtkreis der Straßenlaterne. »Dahinter steckt natürlich Programm.«
Anaïs überlegte. Nein, das passte nicht zusammen. Zwischen einer pharmazeutischen Firma und einem Serienmörder, dem Lieferanten von Antidepressiva und einem Attentat mit einem Hécate II konnte einfach kein Zusammenhang bestehen.
»Ich denke, Sie sind auf dem falschen Dampfer«, sagte Koskas. »Bei Mêtis handelt es sich um einen bekannten Großkonzern. Die einzigen Probleme, mit denen man dort klarkommen muss, sind die ständigen Attacken gegen solche Geschäfte und Proteste gegen klinische Tests mit menschlichen Versuchskaninchen – Sie wissen schon. Natürlich wirft man ihnen auch vor, Menschen abhängig zu machen. Aber das ist auch schon alles. Ein Unternehmen dieser Größenordnung würde nie einen Mord in Auftrag geben, der es auf die Titelseite von Zeitungen schafft.«
»Und was ist mit den Verbindungen zur Armee?«
»Ja eben! Gäbe es ein Problem, das nur auf die harte Tour gelöst werden könnte, würden sich sicher die Partner von Mêtis darum kümmern. Die Polizei würde nie davon erfahren.«
Anaïs nickte. Die letzte Bemerkung hatte sie an ein Detail erinnert. Sie dachte daran, dass der Q7 angeblich am 12. Februar als gestohlen gemeldet worden war, was die ACSP als Halterin des Wagens und Mitglied der Unternehmensgruppe natürlich entlastete.
»Hätte man bei Mêtis die Möglichkeit, eine Diebstahlmeldung bei der Gendarmerie zu fälschen?«
»Ich glaube, Sie haben noch immer nicht verstanden«, flüsterte Koskas. »Wenn die Gerüchte stimmen, dann hat Mêtis die besten Verbindungen zu allem, was in Frankreich Uniform trägt, und allem, was für Gesetz und Ordnung steht. Der Wurm ist nicht im Apfel. Apfel und Wurm haben sich verbündet.«
Anaïs wollte noch eine Frage stellen, doch der Journalist war plötzlich verschwunden. Jetzt gab es nur noch die Brücke, den Himmel und die Stille. Anaïs wusste jetzt, was sie tun musste. Zunächst würde sie sich ausschlafen und dann den Stier bei den Hörnern packen.
Sie würde dem Minotaurus aus ihrem persönlichen Mythos gegenübertreten.
Sie würde mit ihrem Vater reden .
E r war früh aufgestanden.
Nachdem er die Küche gefunden und sich einen Kaffee aufgebrüht hatte, saß er nun am Fenster des Speisesaals und betrachtete die Landschaft. Langsam wurde es hell. Er entdeckte eine Umgebung, die er am Vortag nur im Regen gesehen hatte. Im bergigen Hinterland gab es keine Palmen und Olivenbäume mehr, sondern tiefe Schluchten, rote Felsen, Nadelwälder und Serpentinenstraßen hoch über dem Abgrund.
Mit der Kaffeetasse in der Hand schlenderte er weiter in einen anderen Saal, den er erst am Morgen entdeckt hatte. Langsam ging er den Korridor entlang. Auch die Architektur der Villa gefiel ihm. Die Stützmauern bestanden aus rohem Beton, die Zwischenwände aus gestrichenem Zement. Nirgends gab es Schnörkel oder unnützen Schmuck – nichts als klare Linien und glatte Oberflächen.
Er erreichte den Computerraum. Auf einem langen Tisch aus hellem Holz standen nebeneinander fünf Rechner. Narcisse betätigte die Tastatur des ersten und stellte fest, dass er mit dem Internet verbunden war. Er gab das Wort »Matrjoschka« in Google ein.
Ein merkwürdiges Wort. Es klang russisch. Angeblich hatte er es kniend vor der Leiche des Ikarus ausgesprochen.
Die Suchmaschine schlug ihm ungefähr 182000 Ergebnisse vor, doch die Fotos, die auf dem Bildschirm erschienen, enthielten bereits die wichtigste Antwort. Es handelte sich um die berühmten, aus bemaltem Holz hergestellten Puppen in der Puppe. »Matrjoschka« bedeutete also nichts anderes als russische Puppe.
Er betrachtete die kleinen Großmütterchen mit ihren bunten Kopftüchern und roten Wangen. Sie hatten runde Köpfe, runde Augen und Körper wie Stehaufmännchen. Sollte das ein Witz sein? Was hatten dieses Wort und die Puppe in seinen Nachforschungen zu suchen? Warum hatte er die Silben wie ein Gebet wiederholt, als er auf Knien vor einem toten Mann mit verbrannten Flügeln lag? Und noch ein anderer Gedanke nagte an ihm: Der Predator von Bougainville hatte ausgeplaudert, dass das Passwort der Männer im Anzug ein russisches Wort war. Etwa Matrjoschka?
Narcisse sah sich die anderen Ergebnisse an. Er fand Puppen in der Puppe zum Anmalen, zum Sticken und als Schlüsselanhänger.
Weitere Kostenlose Bücher