Der Ursprung des Bösen
Funktionalität und Nüchternheit bevorzugte.
Sie gingen auf den unteren der beiden Flügel zu. In der ersten Etage reihte sich ein Fenster an das andere. Sicher waren es die Zimmer der sogenannten »Gäste«. Eine Etage höher befanden sich große, raumhohe Fenster, die auf einen Laufgang hinausgingen. Die Ateliers.
Zwischen den Stufen und der Bepflanzung entdeckte Narcisse glühende Zigarettenenden.
Drei Männer saßen auf einer Bank und rauchten. Zwar konnte Narcisse ihre Gesichter nicht erkennen, doch ihre Gesten und ihr Lachen zeigte ihm, dass sie psychische Probleme hatten.
Leise begannen die Männer zu skandieren:
»Nar-cis-se, Nar-cis-se, Nar-cis-se.«
Narcisse schauderte. Er erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Rattenkostüm auf dem Wagen getanzt hatten. Waren diese Irren tatsächlich Künstler wie er? War er so verrückt wie sie?
S ein Zimmer war klein, quadratisch, gut geheizt und sehr gemütlich, obwohl es nicht gerade übermäßig komfortabel ausgestattet war. Die Wände aus Beton, der Boden aus Holz, die Vorhänge aus grobem Stoff. Ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl, ein Schreibtisch. Das Bad war in einer Ecke untergebracht und erschien eher hoch als geräumig.
»Ziemlich spartanisch, doch es hat noch nie Beschwerden gegeben«, meinte Corto.
Narcisse nickte. Die Proportionen, die sanften Grau- und Brauntöne, der Boden und das Holzmobiliar schienen den Gast willkommen zu heißen. Das Zimmer wirkte klösterlich und wie ein Schutzraum.
Nach ein paar Erläuterungen zu den Abläufen im Haus überreichte Corto ihm einige Toilettenartikel und Kleidung zum Wechseln. Dass man sich um ihn kümmerte, tat Narcisse gut. Seit Stunden, ja seit Tagen fühlte er sich extrem angespannt – und irgendwann drohte der Faden zu reißen.
Als er allein war, duschte Narcisse und zog die neuen Sachen an. Die Jeans waren ihm zu groß, das T-Shirt hatte keine Form mehr, und der Trucker-Pulli roch nach Weichspüler. Dennoch fühlte er sich unendlich glücklich. Er ließ sein Eickhorn, die Glock und den kleinen Schlüssel für die Handschellen, den er dem Wachmann abgenommen und als Glücksbringer behalten hatte, in die Hosentasche gleiten. Schließlich nahm er die Schnellhefter aus seinem Aktenkoffer und strich sie glatt, doch ihm war nicht danach, sich wieder in diese Dinge zu vertiefen.
Er legte sich auf das Bett und löschte das Licht. Draußen rauschte das Meer. Nein, das ist nicht das Meer , wurde ihm erst Sekunden später klar. Es ist das Rascheln der Pinien .
Er ließ sich vom Rhythmus der Außenwelt wiegen, einem mitreißenden, hypnotischen Rhythmus. Er fühlte sich erschöpft. In seinem Geist war nichts mehr als Müdigkeit.
Seit dem Morgen schien er zehn verschiedene Leben gelebt zu haben. Ihm wurde klar, dass er plötzlich keine Angst mehr vor der Polizei hatte. Noch nicht einmal vor den Männern in Schwarz. Er hatte Angst vor sich selbst. Meine Malerei ist ein Repentir .
Er war der Mörder.
In der Dunkelheit riss er die Augen weit auf.
Vielleicht war er auch nur derjenige, der die Spuren des Mörders verfolgte.
Er versuchte sich selbst von der Schlüssigkeit dieser Hypothese zu überzeugen, die ihn bereits in der Bibliothek Alcazar beschäftigt hatte. Er musste ein guter Ermittler sein, denn er war grundsätzlich vor der Polizei und vor irgendwelchen Zeugen am Tatort. Aber als er schon fast davon überzeugt war, schüttelte er plötzlich den Kopf. Die Theorie hielt nicht stand. Zwar hatte er als Janusz tatsächlich nach dem Obdachlosenmörder gefahndet, nicht aber als Freire. Selbst wenn er sich tiefgreifende Störungen und eine verborgene Seite seines Geistes zugestand, würde er sich dieser Nachforschungen erinnern, die ihn in die Reparaturgrube im Bahnhof Saint-Jean geführt hätten.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich mit aller Macht auf den Schlaf, der allein ihn von den Qualen des Nachdenkens erlösen konnte. Doch alles, was er vor seinem geistigen Auge sah, war ein Körper, der über ihm baumelte.
Anne-Marie Straub.
Eine weitere Tote, für die er indirekt verantwortlich war.
Er erinnerte sich seiner Gedanken am Strand von Nizza. Erst gestern Abend war es gewesen. Die Tote konnte ihm vielleicht helfen, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren. Er war fast sicher, dass sich alles in einer psychiatrischen Klinik in Paris oder Umgebung abgespielt hatte. Gleich morgen früh würde er dieser Spur folgen. Anne-Marie Straub. Die einzige Erinnerung, die jede seiner Persönlichkeiten kannte. Der
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