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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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er sich noch einen Kaffee geholt, doch die Geräusche auf dem Flur hielten ihn davon ab, sein Refugium zu verlassen. Mit einem Stift in der Hand tauchte er in viele Tausend Namen ein.

A n diesen Ort zurückzukehren, zudem noch an einem Sonntag, fiel ihr unendlich schwer.
    In der sonntäglichen Einsamkeit fand sich nichts und niemand, um den Schock abzumildern – weder Autos auf den Straßen noch Arbeiter im Schlosshof oder in den Weinlagern. Nur einer war da: ihr Vater, der sein Frühstück einnahm.
    Sie hatte nicht am Hoftor geläutet, weil das Gitter ohnehin immer offen stand. Es gab weder Kameras noch Alarmsysteme. Jean-Claude Chatelet schien sagen zu wollen: »Kommt nur herein, Leute, und schaut euch das Monster an.« In Wirklichkeit allerdings war diese Einladung eine Finte, die zu dem ehemaligen Henker und seinen verqueren Methoden passte. Im Schatten der Gebäude wartete eine ganze Hundemeute.
    Anaïs parkte im Hof. Äußerlich hatte sich nichts verändert. Das Schloss wirkte vielleicht ein wenig älter und grauer, aber immer noch wuchtig. Es erinnerte eher an eine Festung als an einen Herrensitz aus der Renaissancezeit. Seine Fundamente stammten aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Die gemauerte, von vielen schmalen Fenstern durchbrochene Fassade flankierten zwei Ecktürme mit spitzen Dächern, an denen stellenweise wilder Wein emporrankte. Die Steine waren mit grünem Moos und silbrigen Flechten bedeckt.
    Es hieß, dass sich Montaigne während der Pestepidemie des Jahres 1585 hierher geflüchtet habe. Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, doch Anaïs’ Vater hielt die Legende gern am Leben. Wahrscheinlich fühlte er sich in diesen Mauern ebenso vor anderen Epidemien geschützt, wie zum Beispiel vor Gerüchten, Verurteilungen und dem inquisitorischen Auge der Medien und der Politik.
    Sie stieg aus dem Smart und lauschte den vertrauten Geräuschen. Vogelrufe klangen durch die kristallklare Luft. Die verrostete Wetterfahne knirschte auf dem Dach. Irgendwo in der Ferne tuckerte ein Traktor. Sie wartete auf die Hunde, die jeden Augenblick auftauchen würden. Und da kamen sie auch schon über den Kies gesprintet. Die meisten von ihnen erkannten sie sofort. Die neu Hinzugekommenen vertrauten den Älteren und wedelten ebenfalls mit dem Schwanz.
    Anaïs streichelte alle Hunde, ehe sie sich den Terrassentüren zuwandte, die sich entlang der gesamten Fassade öffneten. Zur Rechten lagen die Wirtschaftsgebäude, links begannen die Weinberge. Die Reben sahen wie flehend erhobene Hände aus. Nachdem Anaïs erfahren hatte, wer ihr Vater wirklich war, hatte sie sich vorgestellt, dass seine Opfer hier begraben wären und aus der Erde zu steigen versuchten.
    Sie klingelte. Es war 10.15 Uhr. Sie hatte den Zeitpunkt genau abgewartet. Zuvor hatte sie die Fundstücke aus der Felsbucht von Sormiou direkt an Abdellatif Dimoun nach Toulouse geschickt und dabei tunlichst den Dienstweg vermieden.
    Den sonntäglichen Stundenplan ihres Vaters kannte sie auswendig. Er war früh aufgestanden und hatte gebetet. Anschließend hatte er seine Gymnastikübungen absolviert, ehe er im Pool im Untergeschoss mehrere Runden geschwommen war. Später hatte er einen Spaziergang durch seine Weinberge unternommen. Der Rundgang des Winzers.
    Jetzt nahm er sein Frühstück im Gobelinzimmer ein, während in seinem Zimmer in der ersten Etage mehrere Paar Schuhe mit unterschiedlich hohen Absätzen auf ihn warteten. Reitstiefel, Golfschuhe, Bergstiefel, Fechtschuhe. Ihr Vater war das aktivste Hinkebein der Welt.
    Die große Doppeltür in der Mitte wurde geöffnet. Nicholas erschien. Auch er hatte sich nicht verändert. Anaïs hätte eigentlich längst wissen können, dass ihr Erzeuger ein ehemaliger Militärangehöriger war. Wer sonst hätte eine männliche Haushälterin mit einem solchen Gesicht ertragen? Nicholas war klein, untersetzt und etwa sechzig Jahre alt. Er war rund wie ein Fass, kahlköpfig, sah aus wie eine Bulldogge und schien wirklich jeden Krieg mitgemacht zu haben. Seine Haut wirkte nicht gegerbt, sondern eher gepanzert. Als junges Mädchen hatte Anaïs im Vorführraum ihres Privatclubs einmal den Film Sunset Boulevard von Billy Wilder gesehen. Als Erich von Stroheim im Frack des Majordomus auf der Schwelle des großen, verfallenen Hauses von Gloria Swanson auftauchte, war sie zusammengefahren. Scheiße, das ist ja Nicholas, hatte sie gedacht.
    »Mademoiselle Anaïs«, sagte der alte Adjutant mit bestürzter Stimme.
    Sie gab ihm einen

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