Der Ursprung des Bösen
Es gab »Matrjoschka« als Restaurant, als Buch, als Film, als Rockgruppe, als Kochrezept, als Schreibatelier, als Wodkamarke und als Kissenserie.
Am liebsten hätte er laut gelacht, doch ihm war nicht danach. Während er noch auf der Tastatur herumtippte, erinnerte er sich, dass »russische Puppe« auch der Terminus war, mit dem er seine eigene Krankheitsgeschichte bezeichnet hatte. War das Zufall?
Schließlich widmete er sich seiner zweiten Suche.
»Anne-Marie Straub«, gab er ein.
Der Name brachte als Ergebnis lediglich einige Profile auf Facebook sowie ein paar Artikel über den Filmemacher Jean-Marie Straub. Narcisse entschied sich, die Suche anders zu gestalten. Er tippte die Worte »Selbsttötung« und »psychiatrische Klinik« ein. Das Ergebnis war, als hätte er einen Müllcontainer geöffnet. Er fand Dutzende geharnischter Artikel gegen Psychiatrie, Antidepressiva und Fachärzte, die häufig Überschriften hatten wie »Psychiatrie tötet!«, »Stopp der mentalen Manipulation« oder »Das Geschäft mit der Unvernunft«.
Er verfeinerte seine Suche und stieß auf statistische Aufstellungen über die Zahl von Selbsttötungen in psychiatrischen Anstalten in den Jahren 1990 bis 2000. Viele Zahlen, Kommentare und Analysen, doch nie wurden Namen genannt oder besondere Fälle zitiert. Als Nächstes versuchte er, die Stichworte »Anne-Marie Straub«, »psychiatrische Klinik« und »Île-de-France« miteinander zu verbinden. Das Resultat war breit gefächert, ergab aber keine Zusammenhänge.
Was blieb jetzt noch übrig? Richtig – die gute, alte zwischenmenschliche Kommunikation. Man konnte die entsprechenden Einrichtungen in Paris und Umgebung anrufen, sich einen Psychiater geben lassen und ihn fragen, ob er sich an eine junge Frau erinnerte, die sich irgendwann in den letzten zehn Jahren mit einem Männergürtel erhängt hatte.
Absurde Idee!
Vor allen Dingen an einem Sonntagmorgen um neun Uhr.
Er tat es trotzdem. Zunächst erstellte er eine Liste der infrage kommenden Kliniken im Großraum Paris. Da es jedoch mehr als hundert solcher Einrichtungen gab, beschloss er, sich auf die vier in Paris selbst befindlichen Häuser zu beschränken: Sainte-Anne im 13. Arrondissement, Maison-Blanche im 20. Arrondissement sowie Esquirol und Perray-Vaucluse jeweils in Vororten. Nach kurzem Nachdenken fügte er noch die Spezialklinik Paul-Guiraud in Villejuif und den Sozialpsychiatrischen Dienst der Klinik Ville-Évrard in Neuilly-sur-Marne hinzu.
Eine halbe Stunde später hatte er zwar viele Worte vergeudet, aber kein Resultat erzielt. Nur ein einziges Mal war es ihm gelungen, mit einer Assistenzärztin zu sprechen, die allerdings erst seit wenigen Jahren in der Klinik arbeitete. In den übrigen Fällen musste er mit Telefonistinnen vorliebnehmen, die ihm erklärten, dass an diesem Morgen keine Ärzte anwesend seien. Wieder einmal eine Sackgasse!
Gegen zehn Uhr morgens wurde es auf dem Korridor lebendig. Narcisse hörte Lachen, monotone Stimmen und Stöhnen – die typischen Hintergrundgeräusche einer psychiatrischen Klinik. Er ertappte sich, wie er nervös auf seinem Block herumkritzelte. Ohne es zu bemerken, hatte er die Gestalt einer erhängten Frau gezeichnet. Die Kritzelei erinnerte entfernt an die Pinscreen-Trickfilme von Alexander Alexeieff. Als ihm das einfiel, freute er sich: Er hatte also doch nicht alles vergessen!
Wie hatte Corto noch gesagt? »Und doch war an deiner Geschichte etwas Wahres. Du bist wirklich Maler.«
Wie die Erinnerung an Anne-Marie Straub und sein fundiertes psychiatrisches Wissen zog sich seine Begabung für Zeichnen und Malerei durch jede seiner Identitäten. Vielleicht war er früher einmal Maler und Psychiater gewesen.
Er beschloss, es mit einer Crossover-Studie zu probieren. Auf der ersten Liste würden die Absolventen der Pariser Universitäten mit Fachrichtung Psychiatrie aus den 1990er Jahre stehen. Er schätzte sich auf etwa vierzig, also musste er vor etwa zwanzig Jahren studiert haben. Die andere Liste sollte die Absolventen der Kunstakademien im gleichen Jahrzehnt enthalten.
Falls sich in beiden Listen der gleiche Name fand, hätte er sich selbst gefunden. Es sei denn, dass er als Maler Autodidakt war.
Die Listen ließen sich im Internet leicht erstellen. Narcisse druckte sie aus und ordnete die beiden Gruppen nach Jahrgängen. Der Vergleich gestaltete sich nicht allzu schwierig, da die Namen alphabetisch geordnet waren, dauerte aber trotzdem mehrere Stunden.
Gerne hätte
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