Der Ursprung des Bösen
Nummer 7 durchquerte das 9., 10. und 19. Arrondissement. Genau die richtige Gegend. In der Umgebung der Stationen Château-Ladon oder Crimée würde er sicher ein Hotel finden. Die Zeit des Luxus war vorüber. Er besaß nicht einmal mehr genügend Geld, um sich ein Zimmer in der letzten Kaschemme leisten zu können. Sogar in die Metro war er als Schwarzfahrer eingedrungen.
Einigermaßen erleichtert, aber vor allem erschöpft ließ er sich in einen der Plastiksitze der Station La Courneuve sinken. Das Beruhigungsmittel begann zu wirken. Seine Lider schienen Tonnen zu wiegen, seine Muskeln wurden immer schlaffer.
Ohne Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er den Kreuzgang des Hôtel-Dieu durchquert und dabei so getan, als studiere er sein eigenes Krankenblatt. Er stellte fest, dass er den Hof der überwachten Stationen für Straftäter nur umgehen konnte, indem er den Haupteingang benutzte. Und das tat er auch. Ohne das geringste Zögern ging er durch die große Eingangshalle. Er wandte sich nach links, ging den Vorplatz vor Notre-Dame entlang und entsorgte Kittel und Krankenblatt in einem unbeobachteten Augenblick in einen Mülleimer.
Er flitzte durch die Rue du Cloître, hinüber auf die Île Saint-Louis, den Quai de Bourbon und den Quai d’Anjou entlang über den Pont de Sully zur Metrostation Sully-Morland auf der rechten Seite der Seine.
Auf dem Bahnsteig herrschte Grabesruhe. Es roch nach verbranntem Gummi. Er ging davon aus, dass bisher noch niemand sein Verschwinden bemerkt hatte. Paris war ruhig. Paris schlief. Paris wusste nicht, dass der mythologische Mörder wieder auf der Flucht war.
Der Zug fuhr ein. Sobald Narcisse saß, wurde sein Betäubungsgefühl schlimmer. Das Schaukeln der Metro wiegte ihn. So würde er nicht lang durchhalten. Um wach zu bleiben, stand er auf, konsultierte den Streckenplan und entschied sich für die Station Poissonnière, den zehnten Halt nach Sully-Morland. Hoffentlich würde er bis dorthin durchhalten. Er schmiegte sich wieder in seinen Sitz und klammerte sich an seine Gedanken, die er in Ordnung zu bringen versuchte. Doch es gelang ihm nicht. Er war nicht mehr in der Lage, folgerichtig zu denken.
Er war bereits fast eingeschlafen, als die Schilder mit der Aufschrift Poissonnière im Tunnel auftauchten. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf, verließ die Metro und ging hinaus in die Straßen des 10. Arrondissements. Die klirrend kalte Luft belebte ihn.
Der Mann am Empfang eines kleinen Hotels in der Rue des Petites-Écuries verlangte Vorkasse.
»Es geht erst morgen«, erklärte Narcisse so souverän wie möglich. »Ich habe kein Bargeld bei mir.«
»Eine Kreditkarte tut es auch.«
»Hören Sie«, versuchte Narcisse ihn zu überzeugen, »ich schlafe ein paar Stunden und bezahle gleich morgen früh.«
»Kein Geld, kein Bett.«
Narcisse knöpfte sein Jackett auf und veränderte den Tonfall.
»Hör zu, mein Bester. Allein mit diesem Jackett hier könnte ich mir einen ganzen Monat in deiner Absteige leisten, kapiert?«
»Bleiben Sie gefälligst höflich. Und zeigen Sie mir das Jackett.«
Narcisse zog es ohne mit der Wimper zu zucken aus. Er stand ohnehin schon mit einem Bein im Gefängnis. Natürlich würde der Mann sich sofort an den merkwürdigen Zeitgenossen ohne Geld erinnern, wenn er am nächsten Morgen die Nachrichten hörte. Doch im Augenblick begutachtete er das feine, italienische Gewebe.
»Sie nehmen das Bett, ich behalte die Jacke. Aber nur als Pfand.«
»Abgemacht«, stimmte Narcisse zu.
Der Mann schob einen Schlüssel über den Tresen. Narcisse nahm ihn und stieg die enge Treppe hinauf. Wände, Boden und Decke der Stiege waren mit orangefarbenem Teppichboden ausgeschlagen. Das Gleiche galt für das Zimmer. Ohne Licht anzuknipsen zog Narcisse den Vorhang zu und ging ins Bad.
Über dem Waschbecken war eine Neonröhre angebracht. Narcisse betrachtete sich im Spiegel. Ausgemergelte Züge, tief in den Höhlen liegende Augen, wirres Haar. Er sah schrecklich aus, aber es hätte schlimmer sein können.
Seit er aus dem Krankenhaus geflohen war, dachte er unablässig über den Fremdkörper in seiner Nebenhöhle nach. Natürlich hatte er keine Antwort parat, doch nach den Bemerkungen des Arztes über ein »Implantat, das Hormone freisetzt« oder »eine dieser Mikropumpen aus Silizium« konnte er sich durchaus vorstellen, dass es sich um etwas Ähnliches handelte. Nur dass es in diesem Fall nicht um Heilung ging, sondern im Gegenteil eine Krankheit auslösen sollte.
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