Der Ursprung des Bösen
das Zimmer und öffnete das Fenster, was keinerlei Problem darstellte. Die Kälte schlug ihm ins Gesicht. Aber eine Flucht war möglich. Nein, er würde sein Schicksal nicht in die Hände der Polizei legen! Er würde die Waffen nicht strecken! Er würde es nicht anderen überlassen, die Antworten auf seine Fragen zu finden!
Als er sich ein letztes Mal umblickte, fiel ihm sein Krankenblatt ins Auge, das am Fußende der Trage hing. Rasch ging er noch einmal zurück und nahm es samt der Plastikunterlage mit. Er wusste schon, was er damit anfangen wollte!
Mit dem Krankenblatt unter dem Arm kletterte er über die Fensterbrüstung und landete auf einem Sims. Unter ihm lag der Innenhof. Der Pariser Verkehrslärm grummelte wie ein fernes Gewitter. Die Kathedrale Notre-Dame ragte wie ein Gebirge in den dunklen Himmel und verursachte ihm fast noch mehr Schwindel als der leere Raum unter seinen Füßen. Hastig hielt er sich am Fensterbrett fest und konzentrierte sich nur noch auf die nähere Umgebung.
Er befand sich in der zweiten Etage. Der erste Stock wurde vom Kreuzgang eingenommen. Wenn er es schaffte, da hinunterzukommen, konnte er unter einen der Bögen schlüpfen, eine Treppe suchen und verschwinden.
Zwanzig Meter weiter links führte ein Fallrohr bis ins Erdgeschoss. Langsam bewegte er sich vorwärts. Er spürte, wie seine Füße in der nachgiebigen Zinkabdeckung einsanken. Die eisige Kälte half ihm dabei, seiner Müdigkeit nicht nachzugeben.
Innerhalb kurzer Zeit erreichte er das Rohr. Mit den Händen hielt er sich an der ersten Schelle fest, während er mit den Füßen nach der nächsten tastete. Er bückte sich, griff nach dieser Schelle und ließ einen Fuß weiter nach unten gleiten. So ging es immer weiter, bis er schließlich den Steinbalkon in der ersten Etage erreichte und ins Innere der Galerie sprang.
Niemand war zu sehen. Er schlich sich an der Balustrade entlang bis zu einem Treppenhaus. Dort unten im Hof würden mit Sicherheit Polizisten patrouillieren. Er musste eine Verkleidung finden, um unbeschadet die Höhle des Löwen zu durchqueren.
Er entschied sich, die Treppe doch nicht hinunterzusteigen, und wandte sich stattdessen nach rechts. Ein menschenleerer Flur mit Linoleumfußboden, beigefarbenen Wänden und einer Reihe identischer Türen lag vor ihm. Die Türen waren nummeriert. Auf der Suche nach einem Schwesternzimmer, einer Garderobe oder einem Technikraum entdeckte er plötzlich eine Tür mit der Aufschrift »Eintritt verboten«.
Er drückte die Klinke und glitt hinein. Nachdem er den Lichtschalter ertastet hatte, fluchte er. Der Raum enthielt nur Bettzeug und Regale mit Putz- und Reinigungsmitteln. Während er dastand und sich ärgerte, wurde die Tür hinter ihm geöffnet. Jemand schrie erschrocken auf. Narcisse drehte sich um. Vor ihm stand eine afrikanische Putzfrau mit Wagen und Besen.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er mit herrischer Stimme.
»Sie haben mich erschreckt.«
Gerade als die Putzfrau die Tür öffnete, hatte er einen Kittel gefunden und rasch übergezogen. Zwar fehlte ihm das Namensschild, doch seine schlechte Laune verlieh ihm genügend Autorität.
»Noch einmal: Was haben Sie hier zu suchen?«
Die Frau fand ihren Mut wieder und runzelte die Stirn.
»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.«
»Ich? Nun, ich erledige Ihre Arbeit. Ich komme gerade aus 113. Die Patientin hat sich übergeben und meinen Kittel beschmutzt. Ich habe mindestens zehn Minuten geklingelt, ohne dass jemand gekommen ist. Unfassbar!«
Die Putzfrau zögerte.
»Also, ich bin eigentlich nur für die Flure zuständig. Ich …«
Narcisse griff nach einem Wischlappen und warf ihn ihr zu.
»Sie sind hier für Sauberkeit zuständig! Also kümmern Sie sich um die 113!«
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, schob er sie beiseite und verließ den Raum. Während er den Flur entlangging und sich den Kittel zuknöpfte, spürte er den Blick der Frau im Rücken. Nur noch wenige Schritte, dann würde er wissen, ob seine List funktioniert hatte.
»Herr Doktor!«
Mit klopfendem Herzen drehte er sich um.
»Sie haben etwas vergessen!«
Sie hielt ihm das Krankenblatt entgegen, das er auf die Betttücher gelegt hatte. Er kehrte um und lächelte sie an.
»Vielen Dank. Und alles Gute.«
Mit entschlossenen Schritten ging er davon. Als er hörte, wie die Frau mit Eimer und Schrubber davoneilte, wusste er, dass er gewonnen hatte.
Er wandte sich nach links und ging die Treppe hinunter.
D ie Linie
Weitere Kostenlose Bücher