Der Ursprung des Bösen
Aktenordner.
»Sie ist hier.«
Anaïs zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Was ist das?«
»Der Fall, nach dem du gesucht hast. Ein entmannter Penner, der am 3. September 2009 unter der Brücke Pont d’Iéna am linken Seine-Ufer gefunden wurde.«
Sofort fiel ihr alles wieder ein. Narcisses Zeichnungen. Das verzerrte Gesicht. Die Axt aus Feuerstein. Die verstümmelte Leiche.
»Und warum bringst du mir das?«
Er drehte den Ordner und schob ihn auf sie zu.
»Wirf mal einen Blick hinein.«
Es war eine komplette Verfahrensakte samt Fotos, Plänen, Autopsiebericht und Ermittlungsprotokollen. Zunächst blätterte sie die Farbfotos in Postkartengröße durch. Der Mann war nackt und lag ausgestreckt und mit schwärzlich verfärbtem Schritt unter dem düsteren Brückengewölbe. Der Körper erschien außergewöhnlich lang, die extrem weiße Haut, die einen harten Kontrast zum schmutzigen Boden bildete, wirkte fast durchscheinend. Anaïs fragte sich, ob die Blässe der Leiche ein Zeichen dafür war, dass man dem Mann Blut entnommen hatte. Das unter Bauschutt am Brückenbogen verborgene Gesicht war nicht zu erkennen.
»Wurde er identifiziert?«, fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Hugues Fernet, vierunddreißig Jahre alt und ein guter Bekannter der Polizei. Er hat 2007 und 2008 an den Demonstrationen der Enfants de Don Quichotte teilgenommen. Eine Riesenklappe. Dem war nicht nur alles egal, sondern er bestand sogar auf sein Recht auf Faulheit.«
»Und der Fall?«
»Wir haben absolut nichts in der Hand. Weder Indizien noch Zeugen. Die Wasserschutzpolizei hat ihn frühmorgens gefunden. Wir hatten gerade noch Zeit, ihn wegzuräumen, ehe die ersten Touristen mit den Ausflugsbooten vorüberkamen.«
Eine Großaufnahme der Wunde zeigte eine grobe Verstümmelung, die Rückschlüsse auf ein barbarisches Werkzeug zuließ. Zum Beispiel die Axt in Narcisses Federzeichnung. Die Waffe schien eine wichtige Rolle im Ritual dieses Verbrechens zu spielen, das vermutlich auf irgendeinen Mythos anspielte.
Anaïs fiel die zweite Zeichnung ein, auf welcher der Mörder mit dem verzerrten Gesicht die Genitalorgane in die Seine warf. Auch diese Geste musste eine symbolische Bedeutung haben. Aber woher kannte Narcisse diese Details? War er der Mörder?
»Wer hat sich darum gekümmert? Gab es eine Sonderkommission?«
»Wegen eines Obdachlosen? Du hast Ideen! Nein, das wurde so nebenher mit erledigt.«
»Gab es irgendwelche Erkenntnisse?«
»Wie schon gesagt, absolut nichts. Alle Protokolle sind da drin, die Befragung der Nachbarn, die Analysen, ein paar der Form halber geführte Vernehmungen von Obdachlosen, und das war’s. Es wurde als Abrechnung unter Pennern verbucht, und damit war der Fall abgeschlossen.«
»Hat die Art der Verstümmelung keine Fragen aufgeworfen?«
»Penner sind zu allem fähig. Kein Grund, sich Gedanken zu machen.«
»Weißt du, ob der Leiche Blut fehlte?«
»Nun ja, die Wunde hat stark geblutet.«
»Nein, ich meine die Entnahme von einem oder mehreren Litern Blut.«
»Jedenfalls habe ich nichts darüber gehört.«
Anaïs blätterte den Vorgang durch. In einer Ecke des Hefters stand der Name des Richters. Paul Vollatrey.
»Und jetzt? Soll der Fall wieder aufgerollt werden?«
»Dazu müssten wir erst einmal die Staatsanwaltschaft überzeugen und ihr beweisen, dass dieser Mord in die Serie von Ikarus und Minotaurus passt.«
»Was bedeutet, dass wir die Sage finden müssen, auf die sich dieser Mord bezieht.«
»Richtig. Die beiden Zeichnungen sind vielleicht ein bisschen zu mickrig, um dafür die ganze Maschinerie wieder anzuleiern.«
Anaïs verstand den versteckten Hinweis sofort.
»Du willst also, dass ich mich darum kümmere, die Sage zu identifizieren?«
»Nun ja, du hast doch hier jede Menge Zeit.« Er blickte Anaïs gerade in die Augen. »Dass du eingebuchtet worden bist, heißt ja noch lange nicht, dass ich deinen Vorschlag ablehne.«
»Welchen Vorschlag?«
»Zusammenzuarbeiten.«
»Hier?«
»Ich fürchte, für dich ist es mit der Arbeit da draußen erst einmal vorbei, meine Schöne. Aber zum Nachdenken hast du doch hier gerade die richtige Ruhe.«
Anaïs ahnte, dass sie zumindest einen Trumpf in der Hand hatte.
»Wie geht es mit mir weiter?«
»Du wirst dem Richter vorgeführt.«
Sie beugte sich über den Tisch. Solinas zog sich sofort ein Stück zurück. Er hatte die Spuckattacke nicht vergessen.
»Hol mich hier raus«, flüsterte sie.
»Finde die Sage.«
Die Fakten
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