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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nie richtig geschlafen.«
    »Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel.«
    Die Frau erhob sich und wandte ihr den Rücken zu. Anaïs stellte plötzlich fest, dass sie nicht nur keine Handschellen trug, sondern dass sich im gesamten Umkreis – wohl auf Bitten der Ärztin – auch keine Aufseherin befand. Sollte sie es probieren? Aber was überhaupt? Nein, sie fantasierte!
    Die Ärztin drehte sich um und hielt ihr eine Tablette und einen Becher Wasser hin. Ihre Jugend und ihre Zerbrechlichkeit wirkten vertrauenerweckend. Eine Verbündete . Hastig überlegte Anaïs, worum sie die junge Frau bitten könnte. Dass sie irgendetwas in ihre Zelle schmuggelte? Ein Handy vielleicht? Einen Chip? Eine Waffe? Himmel, sie fantasierte!
    »Vielen Dank.«
    Anaïs schluckte folgsam die Pille. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen. Sie warf einen Blick nach links. Die Frauen mit den Magenbeschwerden und chronischen Durchfällen saßen immer noch dort, unförmige Gestalten wie Wäschesäcke mit menschlichen Gesichtern.
    Die Ärztin setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und schrieb etwas auf.
    »Was ist das?«
    »Ein Überstellungsgesuch.«
    »Verlegen Sie mich etwa zu den Verrückten?«
    Die Ärztin lächelte flüchtig.
    »Ganz so weit sind Sie noch nicht.«
    »Was dann?«
    »Ich bitte die Direktion, Sie unter Sonderüberwachung zu stellen.«
    »Soll das etwa ein Gefallen sein?«
    »Im Augenblick ist es die einzige Möglichkeit, Ihnen mehr Schutz zu bieten.«
    Anaïs wusste sehr wohl, was diese Verlegung bedeutete: Sie musste die Zelle wechseln, würde mehrmals täglich durchsucht werden und stand unter ständiger Beobachtung. Zwar war sie damit vor ihren Mitgefangenen geschützt, hatte aber so gut wie keine Handlungsfreiheit mehr.
    Enttäuscht kehrte sie in ihre Zelle zurück. Alles, was sie erreicht hatte, war eine strengere Bewachung.

H edonis? Was bedeutet das?«
»Es kommt von Hedonismus. Das ist meine Philosophie. Carpe diem . Man muss jeden Tag und jeden Augenblick genießen.«
    Chaplain betrachtete die kleine Brünette mit dem spitzen Gesicht. Sie hatte lockiges, fast krauses Haar, dunkle, vorstehende Augen mit dunklen Ringen, die fast wie Hämatome aussahen, und violett geschminkte, dicke, molluskenhafte Lippen. Man konnte sie beim besten Willen nicht als eine Schönheit bezeichnen.
    Er saß seinem fünften Date gegenüber. Das Pitcairn trug seinen Namen zu Recht. Die Bar erinnerte an eine Seemannskneipe in einem vergessenen Hafen. In Steingewölben herrschte gedämpftes Licht, und jeder Tisch war mit Vorhängen von den anderen getrennt. In den intimen Separees wiederholte sich in kurzen Abständen immer wieder das Gleiche – die gleichen Hoffnungen, die gleichen Sprüche, die gleichen Unterhaltungen.
    »Sie haben völlig recht«, gab er zurück. Er musste gegen seine Zerstreutheit ankämpfen. »Aber ich möchte nicht nur einen, sondern möglichst viele Tage genießen. Für mich steht Langfristigkeit im Vordergrund.«
    Hedonis hob die Augenbrauen. Ihre Augen schienen ihr fast aus dem Kopf zu kullern. Sie senkte den Kopf über ihren Cocktail und saugte so gierig an ihrem Strohhalm, als erhoffte sie vom Alkohol eine Anregung für weitere Gesprächsthemen.
    Chaplain hatte sich vorgenommen, als ernsthafter Mann aufzutreten, der eine dauerhafte Beziehung suchte.
    »Ich bin sechsundvierzig Jahre alt. One-Night-Stands interessieren mich nicht mehr.«
    »Wow«, lachte sie. »Ich dachte, dass man diese Art Modell heutzutage nicht mehr produziert.«
    Beide lachten verlegen.
    »Und Ihr Name? Was bedeutet Nono?«
    »Ich heiße Arnaud. Raffiniert, nicht wahr?«
    »Pst«, warnte sie und legte den Finger auf die Lippen. »Nennen Sie nie Ihren richtigen Namen.«
    Dieses Mal klang ihr Lachen ehrlicher. Chaplain war verblüfft. Er hatte sich Speed-Dating als eine Art Rettung aus höchster Not oder als Krisensitzung vorgestellt – sozusagen als letzte Station vor dem Selbstmord. In Wirklichkeit unterschied sich der Abend kein bisschen von einem beliebigen Cocktailtreffen in einer Bar. Musik, Drinks und Stimmengewirr. Das einzig Originelle war ein tibetanischer Gong, der alle sieben Minuten geschlagen wurde, um die den Paaren zugestandene Zeit zu beenden. Die Idee stammte von Sasha, der Organisatorin.
    Hedonis änderte die Taktik. Nach ihren ersten Bemühungen, originell, ein bisschen verrückt und allzeit bereit zu wirken, ging sie jetzt zu Vertraulichkeiten über. Sie war siebenunddreißig Jahre alt, Finanzbuchhalterin und besaß eine

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