Der Ursprung des Bösen
beabsichtigte die Polizei? Hatte man eine Nachrichtensperre verhängt, um in aller Diskretion weiterarbeiten zu können? Oder um eine Panik wegen des entflohenen Irren zu verhindern, der die Stadt unsicher machte?
Die Taktik barg mit Sicherheit eine Falle. Trotzdem fühlte er sich freier und leichter. Er kaufte Le Figaro und Le Monde und stellte fest, dass er Hunger hatte. Also erstand er auch noch ein Sandwich.
Während er die Rue de la Roquette hinaufschlenderte, hatte er das wohltuende Gefühl, zu reinen, sauberen Gipfeln vorzudringen.
Irgendwo dort oben erwarteten ihn neue Wahrheiten.
D ie Schöpfung.
Am Anfang war das Chaos. Es gab weder Götter noch Welt, geschweige denn Menschen. Das Chaos gebar Nyx, die Nacht, Erebos, die Finsternis, sowie Gaia, die personifizierte Erde. Der Erstgeborene von Gaia war Uranus, der Himmel. Zusammen mit seiner Mutter Gaia gebar Uranus viele Kinder, darunter auch die Titanen.
Uranus hasste seine Kinder und verbarg sie in der Tiefe der Erde, im Tartaros. Die darüber erboste Gaia stiftete den jüngsten Titan Kronos an, seinen Vater zu entmannen.
Kronos nahm seine Schwester Rhea zur Gattin und zeugte mit ihr die Kroniden, die er jedoch aus Angst vor Entmachtung gleich nach der Geburt fraß. Nur der jüngste Sohn Zeus wurde von Rhea versteckt und überwand später seinen Vater …
Anaïs markierte den Abschnitt auf der Fotokopie, die sie gerade gemacht hatte. In der Gefängnisbibliothek hatte sie irgendwo zwischen süßlichen Liebesromanen und juristischen Nachschlagewerken ein Lexikon der griechischen Mythologie gefunden. Der Lesesaal war fast leer, viel besser geheizt als ihre Zelle und bot sogar einen Ausblick auf den Hof – ein mickriges Rasenstück, auf dem sich schwarz glänzende, fette Krähen um die aus den Zellen geworfenen Abfälle zankten.
Noch einmal las sie den Abschnitt durch. Sie war sich ganz sicher, die mythologische Entsprechung des Mordes an Hugues Fernet gefunden zu haben. Zwar gab es noch andere Beispiele von Entmannung in der griechischen Mythologie, doch das Ritual unter der Brücke Pont d’Iéna entsprach am ehesten dem Verbrechen des Kronos. Jedenfalls fanden sich einige Übereinstimmungen. Um seinen Vater zu entmannen, benutzte Kronos eine Sichel aus Adamant, einem sehr harten Mineral. Der Mörder auf der Zeichnung hatte eine Axt aus Feuerstein in der Hand. Der Titan warf die Genitalorgane ins Meer, der Killer in Paris musste mit der Seine vorliebnehmen.
Aber gab es auch eine Verbindung zwischen den drei Morden? Bisher sah Anaïs nur eine einzige: In jeder Sage ging es um eine Vater-Sohn-Beziehung, in der jeweils der Sohn zum Problem wurde. Minos hatte den Minotaurus in ein Labyrinth gesperrt, weil er ein Monster war. Ikarus musste sterben, weil er leichtsinnig wurde und der Sonne zu nah kam, und Kronos war ein Vatermörder, der seinen Vater entmannte, um die Macht über das Universum zu gewinnen.
Bot sich hier etwa ein Anhaltspunkt zur Psychologie des Mörders? War der mythologische Killer ein schlechter Sohn? Oder vielleicht ein wütender Vater? Anaïs blickte in den Hof hinunter. Zu den streitenden Krähen hatten sich streunende Katzen gesellt. Jenseits davon wurde der Himmel durch Hubschrauber-Schutznetze und Stacheldraht unterteilt.
Anaïs stürzte sich wieder in ihre Lektüre. Die Götter der ersten Generation gehörten einem Universum an, das noch nichts mit den späteren Olympiern zu tun hatte. Sie waren primitiv, brutal und blind – Gottheiten, die als Riesen, Zyklopen und vielarmige Wesen für die Urgewalten der Natur standen.
Auch hier zeigte sich ein gewisser Zusammenhang mit dem Pariser Mord, nämlich die Körpergröße des Opfers. Hugues Fernet hatte vielleicht als Symbol für die Riesen und Titanen gedient. Anaïs ging mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass der Mörder sein Opfer genau mit dieser Absicht ausgewählt hatte. Das Schlachtopfer musste überdimensional und außerhalb aller Norm sein, denn es symbolisierte das Zeitalter der Ur-Gottheiten, eine Ära von Chaos und Verwirrung. Außerdem hatte dieser Mord vor den beiden anderen stattgefunden, so, wie die Titanen den Olympiern vorausgegangen waren.
Anaïs stand auf und suchte in den Regalen nach Werken über primitive Kunst. Die Bücher in dieser Bibliothek waren abgenutzt, zerfleddert und beschmutzt. Man merkte ihnen an, dass sie nur benutzt wurden, um gegen Langeweile, Müßiggang und Verzweiflung anzukämpfen.
Sie fand eine Anthologie über ethnische Masken, die
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