Der Ursprung des Bösen
Slawe. »Schließlich bist du mit unseren Flocken getürmt, Schmalspurwichser.«
Der Mann sprach mit fröhlicher Stimme, aber diese amüsierte Wut war schlimmer als alle anderen Beleidigungen. Offenbar hatte Chaplain die Tür eines Vorzimmers erwischt. Die wahre Hölle wartete erst dahinter. Yussef.
»Heute Abend um acht wirst du hier antanzen.«
»Wo denn?«
»Pass bloß auf, Nono. Langsam ist es nicht mehr witzig.«
Chaplain beschloss, die Provokation noch weiter zu treiben.
»Ich habe euer Geld nicht mehr.«
»Schon gut, um das Geld ist es nicht schade. Hauptsache, du lieferst uns die Ware. Danach werden wir weitersehen.«
Chaplain legte auf, ließ sich rückwärts auf das Bett sinken und betrachtete die Stahlträger. Es gab wohl keinen Zweifel mehr: Er war ein Dealer. Die Ware . Die verschlungenen Muster an der Decke schienen sein verworrenes Schicksal zu symbolisieren. Niemals würde er da wieder herauskommen! Das Labyrinth seiner Persönlichkeiten würde ihn früher oder später Kopf und Kragen kosten!
M öchten Sie darüber sprechen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich schon viel zu viel darüber geredet habe.«
Die Gefängnispsychiaterin betrachtete schweigend die allmählich heilenden Schnitte auf Anaïs’ Unterarmen. Sie war noch sehr jung, hatte aber solche Dinge schon häufig zu Gesicht bekommen. Man musste kein Sigmund Freud sein, um zu begreifen, dass in einem Gefängnis der eigene Körper oft die einzige Ausdrucksmöglichkeit bietet.
»Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht zu viel Blut verlieren.«
»Vielen Dank, Frau Doktor. Ein bisschen Trost war genau das, was ich hier gesucht habe.«
Die Ärztin lächelte nicht einmal.
»Setzen Sie sich.«
Anäis gehorchte und beobachtete ihr Gegenüber. Die junge Frau war kaum älter als sie selbst, blond und hübsch. Zwischen diesen Mauern, wo im Gesicht jeder Frau die Härte ihrer Vergangenheit abzulesen war, wirkten ihre Züge unerwartet sanft. Ihre Augen waren goldbraun, sie hatte hohe Wangenknochen und eine zierliche, gerade Nase. In ihren dunklen Augenbrauen vereinten sich Energie und Zärtlichkeit, und ihr kleiner Mund verführte vermutlich alle Männer zum Träumen.
Was hat diese Schönheit hier im Knast zu suchen?, dachte Anaïs. Sie hätte Model oder Schauspielerin sein können! Erst nach und nach dämmerte ihr, dass das eigentlich ein ziemlich blöder Macho-Gedanke war.
»Sie haben um eine Unterredung gebeten. Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
Anaïs antwortete nicht. Die beiden Frauen saßen in einem kleinen Sprechzimmer. Die linke Wand bestand aus Glas und grenzte ans Wartezimmer, in dem ein großes Tohuwabohu herrschte. Frauen in Jogginghosen, Leggins und dicken Pullis grölten herum, stöhnten, beschwerten sich, hielten sich den Bauch, den Kopf oder irgendwelche Gliedmaßen. Es ging zu wie auf dem Jahrmarkt.
»Ich höre«, drängte die Psychiaterin. »Was haben Sie mir zu sagen?«
Nach dem Mittagessen wäre Anaïs gern in die Bibliothek zurückgekehrt, hatte aber nicht die Erlaubnis dazu erhalten. Man gestattete ihr lediglich ein Telefonat. Bei dem Versuch, Solinas anzurufen, war sie aber nur an seine Mailbox geraten. Nach der Rückkehr in ihre Zelle fand sie nicht einmal mehr genügend Kraft für die Lektüre der Romane von Albertine Sarrazin, die sie in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Und da war ihr der verzweifelte Gedanke gekommen, um ein Gespräch mit der Psychiaterin zu bitten. Zunächst war niemand darauf eingegangen, doch als sie ihre Arme vorzeigte, bekam sie umgehend einen Termin.
»Ich bin Polizistin«, begann Anaïs. »Aber das hat man Ihnen wahrscheinlich mitgeteilt.«
»Ich habe Ihre Akte gelesen.«
»Ich bin da in eine, sagen wir, ziemlich komplizierte Ermittlung hineingeraten, die meine Kompetenzen in gewisser Weise übersteigt. Abgesehen von der Tatsache, dass der Aufenthalt hier im Haus ohnehin nicht angenehm für eine Polizistin ist, empfinde ich …«
»Beklemmungen?«
Anaïs hätte beinahe laut aufgelacht, entschloss sich aber dann doch, ganz ehrlich zu sein.
»Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Das weiß ich nicht. Ich empfinde eine Art unklare und unerklärliche Bedrohung.«
»Hinter Gefängnismauern ist so etwas fast normal.«
Anaïs schüttelte den Kopf, konnte aber nicht antworten. Sie bekam keine Luft mehr. Dass sie ihre Angst offen bekannt hatte, machte offenbar alles nur noch schlimmer.
»Wie schlafen Sie?«, erkundigte sich die Psychiaterin.
»Ich glaube, ich habe hier noch
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