Der Ursprung des Bösen
zu die Nächte in Clubs um die Ohren – aber selbstverständlich nur im VIP-Bereich und mit Promis wie den Fußballern von Girondin Bordeaux.
Die Generation, der Anaïs angehörte, glänzte nicht gerade durch unkonventionelle Verhaltensweisen. Wer sich nicht betrank, befand sich auf dem Cola-Trip und umgekehrt. Wertvorstellungen und Hoffnungen waren so flach wie ein Dancefloor. Kein einziges der Muttersöhnchen in ihrer Umgebung hatte den Ehrgeiz, selbst Geld zu verdienen, denn schließlich besaß man ja längst welches. Manchmal dachte Anaïs, dass sie gern arm gewesen wäre, eine Nutte vielleicht, die den reichen Bubis ohne Gewissensbisse die Scheine aus den Taschen geleiert hätte. Aber eigentlich unterschied sie sich in nichts von ihren Altersgenossen. Sie folgte den Vorgaben, die ihr Vater festgelegt hatte.
Anaïs’ Mutter war eine waschechte Chilenin gewesen. Wenige Monate nach der Entbindung in Santiago hatte sich bei ihr eine mentale Störung gezeigt. Jean-Claude Chatelet arbeitete damals an der Entwicklung der Carmenere, einer Rebsorte, die in Frankreich selten geworden war, am Fuß der Anden aber ausgezeichnet gedieh. Um seiner Frau die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen, hatte der Weinwissenschaftler beschlossen, nach Bordeaux zurückzukehren, wo er mit Leichtigkeit sofort wieder Arbeit fand.
In Anaïs’ Leben waren die geistesgestörte Mutter und die wöchentlichen Besuche in der Klinik in Tauriac, wo sie untergebracht war, die einzigen dunklen Punkte. Sie selbst erinnerte sich kaum noch an diese Zeit – nur daran, dass sie im Park Butterblumen pflückte, während ihr Vater mit einer schweigsamen Frau spazieren ging, die ihre Tochter nicht einmal erkannte. Die Frau starb, als Anaïs acht Jahre alt war, ohne je ihre geistige Klarheit wiederzuerlangen.
Danach wurde die Harmonie durch nichts mehr getrübt. Neben seiner beruflichen Arbeit widmete Anaïs’ Vater sich hingebungsvoll der Erziehung seiner geliebten Tochter, die im Gegenzug alles tat, um seine Erwartungen zu erfüllen. In gewisser Weise lebten sie wie ein Paar, doch Anaïs konnte sich weder an frustrierende Erfahrungen noch an ungute oder beängstigende Vorfälle erinnern. Ihr Vater wollte nur, dass sie glücklich war, und sie kannte kein anderes Glück als jenes, das den herrschenden Normen entsprach. Sie war Klassenbeste und heimste Preise in Reitwettbewerben ein.
Doch dann kam 2002, das Jahr des Skandals.
Anaïs war einundzwanzig, und mit einem Mal veränderte sich ihre Welt. Zeitungsartikel erschienen, Gerüchte kursierten, kritische Blicke waren an der Tagesordnung. Man beobachtete sie. Man stellte ihr Fragen. Doch sie konnte nicht antworten. Es war ihr tatsächlich physisch nicht möglich, denn sie verlor ihre Stimme. Drei Monate lang konnte sie nicht ein Wort sprechen, laut dem Urteil ihrer Ärzte eine rein psychosomatische Störung.
Als erste Maßnahme verließ sie das Landgut ihres Vaters. Sie verbrannte ihre Kleider und verabschiedete sich von ihrem Pferd, einem Geschenk ihres Vaters. Wäre es ihr irgend möglich gewesen, hätte sie das Tier sogar erschossen. Sie wandte sich von allen Freunden ab und zeigte ihrer behüteten Jugend den Stinkefinger. Nie wieder wollte sie sich Konventionen beugen und vor allem nie wieder Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen.
2003 legte sie ihr juristisches Staatsexamen ab. Sie begann, Kampfsportarten wie Krav Maga und Kickboxen zu trainieren, und wurde Sportschützin. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, zur Polizei zu gehen, sich ganz der Wahrheitsfindung zu widmen und die Jahre der Lügen auszumerzen, die ihr Leben, ihre Seele und ihr Blut seit ihrer Geburt beschmutzt hatten.
2004 bewarb sie sich an der Polizeischule in Cannes-Écluse. Die Ausbildung dauerte achtzehn Monate und umfasste Verfahrensabläufe, Verhörmethoden und Sozialkunde. Als Jahrgangsbeste konnte sie sich das Dezernat aussuchen, wo sie eingesetzt werden wollte. Sie entschied sich zunächst für eine ganz normale Wache in Orléans, um das Metier des Streifenpolizisten kennenzulernen. Anschließend ließ sie sich nach Bordeaux versetzen – in die Stadt, wo der Skandal ausgebrochen und ihr Name in den Schmutz gezogen worden war. Niemand verstand ihren Entschluss.
Dabei lag die Lösung auf der Hand.
Sie wollte ihren Peinigern beweisen, dass sie sich nicht vor ihnen fürchtete.
Und ihm – vor allem ihm – wollte sie zeigen, dass sie sich auf die Seite der Wahrheit und Gerechtigkeit geschlagen hatte.
Auch äußerlich hatte
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