Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
über die Erfahrung eines alten Hasen. Anaïs tröstete sich damit, dass ihr die gesetzliche Frist noch ein wenig Zeit ließ. Und außerdem war sie im Dienst gewesen, als der Tote gefunden wurde.
    Ihr blieben acht Tage, in denen sie ohne Ermittlungsrichter und Rechtshilfeersuchen handeln konnte. Sie konnte fragen, wen sie wollte, herumschnüffeln, wo sie wollte, und sie konnte nach eigenem Gutdünken sowohl Mitarbeiter als auch das benötigte Material anfordern. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie gewaltigen Schiss davor. War sie tatsächlich fähig, eine solche Macht richtig zu nutzen?
    Sie schaltete zurück und bog nach rechts in den Cours Pasteur ab. Das Bild des Einsatzleiters der Spurensicherung tauchte vor ihr auf und verwirrte sie. Der Araber mit dem verführerischen Lächeln. Sie dachte an ihren Schnitzer. Dass sie aber auch so versessen darauf gewesen war, ihm ihre Handynummer zu überlassen! So ein Blödsinn! Ob sie sich lächerlich gemacht hatte? Nur allzu deutlich klang ihr noch Véroniques Glucksen bei ihrem Aufbruch im Ohr. Es war Antwort genug.
    Vor der roten Ampel, die wie ein Feuerball im Dunst strahlte, wurde sie zunächst langsamer, dann aber überquerte sie die Kreuzung, ohne auf Grün zu warten. Sie hatte ihr Blaulicht auf das Autodach gesetzt, das wie ein stummes blaues Fanal in der düsteren Nebelsuppe blinkte.
    Anaïs versuchte sich auf die Ermittlung zu konzentrieren, brachte es aber nicht fertig. Wut stieg in ihr auf. Wut auf sich selbst. Warum warf sie sich immer wieder irgendwelchen Typen an den Hals? Immer wieder diese Entzugserscheinungen, immer wieder dieser Wunsch, Begierden zu wecken … Wieso nur war sie derart süchtig nach Liebe? Ihre Einsamkeit war zu einer Krankheit geworden. Zu einer Überempfindlichkeit gegenüber Gefühlen.
    Wenn sie auf der Straße ein Liebespaar sah, verspürte sie einen Kloß in der Kehle. Wenn sich Liebende in einem Film küssten, kamen ihr die Tränen. Wenn jemand aus ihrer Bekanntschaft heiratete, nahm sie eine Lexomil ein. Sie ertrug es einfach nicht zuzuschauen, wenn andere sich liebten. Ihr Herz war zu einer Art Abszess geworden, der auf den geringsten Reiz reagierte. Natürlich kannte Anaïs den Namen dieser Krankheit längst. Sie wusste, dass sie unter einer Neurose litt und eigentlich einen Psychiater konsultieren musste. Seit ihrer Teenagerzeit jedoch war sie durch die Hände unzähliger Psychiater gegangen. Ohne das geringste Resultat.
    Sie parkte ihren Golf neben der Kathedrale, legte die Arme auf das Lenkrad und brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Minutenlang ließ sie ihren Tränen freien Lauf, ehe sie eine Art schmerzliche Erleichterung verspürte. Sie wischte sich die Augen, schnäuzte sich und versuchte auf andere Gedanken zu kommen. Keinesfalls konnte sie in diesem Zustand auf ihrer Dienststelle ankommen. Dort erwartete man einen Chef, keine Heulsuse.
    Sie schaltete den Funk ab, nahm eine Lexomil ein, griff nach ihrem iPod und setzte die Kopfhörer auf, um ein wenig Musik zu hören, während sie darauf wartete, dass der Angstlöser wirkte. Rise von Gabrielle. Ein melancholischer Song aus dem Jahr 1999, der auf einer Melodie von Bob Dylan basierte. Während die Chemie langsam den Kampf gegen die Angst gewann, beschwor das Lied Erinnerungen herauf.
    Anaïs hatte nicht immer diese instabile Neigung zu Nervosität und Depression gezeigt. Irgendwann war sie ein sehr anziehendes und entschlossenes junges Mädchen gewesen, das seine gesellschaftliche Stellung, seine Beliebtheit und seine Zukunft sicher vor Augen hatte. Mit ihrem Vater, einem Önologen, der sich der Wertschätzung der größten und bekanntesten Weingüter erfreute, bewohnte sie ein hübsches Landgut im Médoc. Sie war ausgesprochen gut in der Schule und absolvierte das Gymnasium ohne Zwischenfälle. Nach dem Abitur begann sie, Jura zu studieren, um nach bestandenem Examen noch einen Studiengang in Önologie dranzuhängen und sich auf rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Weinbau zu spezialisieren. Ihr Leben war völlig geradlinig verlaufen.
    Bis zum Alter von zwanzig Jahren hatte Anaïs sich immer den geltenden Regeln gefügt, kleine Ausnahmen inbegriffen. Aber schließlich war man ja jung. Es gab steife Rallyes, wo die Söhne und Töchter der besseren Gesellschaft von Bordeaux sich kennenlernten, aber auch Abende, an denen man sich gemeinsam mit Spitzenweinen betrank, die man sich ganz einfach aus der familieneigenen Kellerei besorgte. Natürlich schlug man sich auch ab und

Weitere Kostenlose Bücher