Der Ursprung des Bösen
in dem, was du vollmundig ›Massaker‹ nennst, einen gangbaren Weg, die Verluste möglichst zu begrenzen. Sozusagen die Amputation einen brandigen Gliedes.«
Im Wagen herrschte tiefstes Schweigen. Nur der Regen prasselte weiter auf das Autodach. Sie hatten die Stadtumgehung erreicht. Durch die nassen Scheiben sah die Stadt weder einladender noch menschlicher aus als die Stahl- und Betonwüste, durch die sie bisher gefahren waren.
Einen letzten Punkt wollte Anaïs aber noch klären.
»Während der Versuchsreihe wurden mehrere Morde begangen, die alle einen mythologischen Hintergrund hatten.«
»Dabei handelt es sich um eines der großen Probleme dieses Projekts.«
»Dann weißt du also auch darüber Bescheid?«
»Matrjoschka hat ein Ungeheuer geboren.«
Auf diese Enthüllung war Anaïs nicht gefasst.
»Bei einem der Patienten hat die Substanz eine unbezähmbare Mordlust hervorgerufen. Der Kerl tötete nach einem verrückten, auf griechischen Sagen basierenden Ritual, aber das weißt du ja selbst.«
»Habt ihr diesen … Patienten … identifiziert?«
»Stell dich nicht dümmer als du bist. Wir alle kennen ihn. Und wir müssen ihn stellen und unschädlich machen, ehe uns alles um die Ohren fliegt.«
Das war es also. Freire galt als Hauptschuldiger. Er war nicht einfach nur ein Name unter vielen anderen auf der schwarzen Liste, sondern derjenige, den zu beseitigen die vorrangige Aufgabe war. Anaïs öffnete das Fenster und hielt ihr Gesicht in den Regen. Inzwischen fuhren sie an der Seine entlang. Ein Straßenschild kündigte das Stadtzentrum an.
»Lass mich raus.«
»Wir sind noch nicht an deinem Hotel.«
»Nicholas«, schrie Anaïs, »halt den Wagen an oder ich springe raus!«
Der Adjutant warf seinem Chef im Rückspiegel einen Blick zu, den dieser mit unmerklichem Kopfnicken beantwortete. Nicholas fuhr an den rechten Straßenrand und hielt. Anaïs stieg aus und blieb auf einem winzigen Gehweg stehen. Eine unaufhörliche Autoschlange brauste die Schnellstraße entlang.
Anstatt sich zu verabschieden, beugte sie sich zum geöffneten Fenster hinunter und schrie ihrem Vater durch den strömenden Regen zu:
»Er ist nicht der Mörder!«
»Ich habe den Eindruck, dass dieser Fall zu einer sehr persönlichen Angelegenheit für dich geworden ist.«
Anaïs lachte auf.
»Und das sagst ausgerechnet du?«
D as Viertel erinnerte ihn an eine Art magnetischen Pol. Einen Punkt auf der Karte, der die Kraft hatte, Gewitter, Not und Verzweiflung anzuziehen. Das Taxi setzte ihn am Anfang der Sackgasse vor dem Haus Rue Jean Jaurès Nummer 54 ab. Der Regen prasselte nieder wie Geschützhagel. Der Teer platzte unter seinen Schritten auf. Die Umgebung war kaum zu erkennen. Es donnerte. Ein Blitz erleuchtete eine Ansammlung aus Kalkstein erbauter ärmlicher Häuser, die sich an die Flanke eines flachen Hügels klammerten.
Kubiela begann mit dem Aufstieg. Mit jedem Schritt wurde das Umfeld hässlicher. Triefende Mauern und verfaulte Zäune schützten halb zugewachsene Häuser. Die Hausnummern waren mit der Hand auf Karton geschrieben. Hunde warfen sich gegen Zaungitter und bellten sich die Kehle wund. Betonpfähle für Stromleitungen standen in Pfützen.
Nachdem Kubiela seinen Nachruf gelesen hatte, war ihm klar, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte, doch das, was er hier sah, legte die Latte noch um einiges tiefer. Er war in eine bittere Not hineingeboren, die er seit Langem besiegt glaubte – die der Slums und Elendsviertel, der Gettos ohne Strom und fließendes Wasser.
Nachdem er den Hügel etwa zur Hälfte erklommen hatte, endete der feste Straßenbelag. Rostiges Eisen, alte Herde und Autoteile steckten im Schlamm. Kubiela ertappte sich bei Ängsten, wie sie brave Spießbürger umtreiben. Fast schon erwartete er, auf dem elterlichen Grundstück einen von zahnlosen, verdreckten Roma bewohnten Wohnwagen vorzufinden.
Tatsächlich handelte es sich bei Nummer 37 um ein Einfamilienhaus aus Backsteinen. Jahrzehnte der Vernachlässigung hatten ihre Spuren hinterlassen. Es stand ganz oben auf dem Hügel, umgeben von Quecken und ausrangierten Kaninchenställen. Das rote Dach sah aus wie eine blutige Wunde.
Geschlossene Fensterläden und der allgegenwärtige Zerfall ließen darauf schließen, dass das Haus schon lange nicht mehr bewohnt wurde. Seine Mutter war weggezogen. Angesichts der Umgebung konnte er sich nicht vorstellen, dass sie ihre alten Tage irgendwo an der Côte d’Azur genoss – es sei denn, sie hatte
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