Der Ursprung des Bösen
gejagt, von dem er sich immer wieder fragte, ob er es nicht selbst war. Und bei alledem hatte er sich nur an eine einzige Hoffnung geklammert: dass ihm alles wieder einfiele, sobald er seine ursprüngliche Persönlichkeit wiedergefunden hatte.
Aber er hatte sich geirrt. Er hatte sich die ganze Zeit geirrt. Er war ein ewiger Reisender. Für ihn gab es keine Endstation. Zwar hatte er seine ursprüngliche Identität wiedergefunden, doch auch die war nichts als eine Etappe. Bald würde er erneut sein Gedächtnis verlieren, sich eine neue Persönlichkeit erschaffen und irgendwann begreifen, dass er nicht wirklich derjenige war, der er zu sein vorgab. Und dann würden seine Nachforschungen wieder von vorn beginnen – immer in der Hoffnung, das wahre »Ich« zu finden.
Dieses »Ich« aber existierte nicht mehr.
Er hatte es für immer verloren.
Traurig wandte er sich den Kinderfotos zu. François mit dreizehn im Judoanzug. Ein Junge, der tapfer in die Kamera lächelte, allerdings mit jenem Anflug von Einsamkeit und Hilflosigkeit, die schon auf anderen Fotos zu erkennen waren. Ein Detail fiel Kubiela auf: Damals waren seine Haare noch nicht dunkel, sondern eher blond gewesen. Der kleine Kubiela hatte während der Pubertät seine Haarfarbe verändert.
1979: François mit acht Jahren auf einer Kirmes. Ein Hemd mit Schulterpolstern, Karottenhosen, weiße Socken – es war der Beginn der Achtziger. Er stand vor den Karussells mit den Händen in den Hosentaschen und dem bedrückten Lächeln eines Jungen, der nur ja nicht stören will.
1973: Hier war er mit seiner Mutter abgebildet – sicher eines der letzten Fotos von ihr, ehe sie eingewiesen wurde. Franciszka hielt den Kopf gesenkt, sodass man ihr Gesicht nicht sehen konnte, doch der Blick des zweijährigen Kindes spiegelte ihr Bild wider. Bereits in diesem Alter war die Traurigkeit zu erkennen.
Kubiela blickte auf. Der Regen hatte aufgehört. Irgendwo strahlte eine noch unsichtbare Sonne. Eigentlich hätte der Anblick ihn trösten müssen, doch er stürzte ihn noch tiefer in seine Melancholie. Warum hinterließ er auf all diesen Fotos den Eindruck eines geprügelten Hundes? Woher kam diese Hilflosigkeit? War es der Schatten, den die Geisteskrankheit seiner Mutter auf ihn warf?
Nun blieb nur noch ein großer Umschlag mit dem Stempel eines Krankenhauses. Vielleicht fand sich ja hier die Erklärung. Eine wie auch immer geartete Krankheit in seiner Kindheit? Er öffnete den Umschlag, doch die Dokumente im Innern klebten durch die Feuchtigkeit zusammen. Es waren Negative.
Vorsichtig zog er sie heraus. In der Hand hielt er Ultraschallbilder, die im Mai 1971 bei seiner Mutter gemacht worden waren – das Datum stand in einer Ecke. Die Technik war damals noch ganz neuartig gewesen.
Endlich gelang es ihm, die Bilder aus dem Umschlag zu lösen.
Was er entdeckte, versetzte ihm einen Schlag.
Im Fruchtwasser schwammen nicht ein, sondern zwei Föten. Zwei Embryonen, die einander mit geballten Fäusten zu bedrohen schienen. In zusammengekauerter Haltung beobachteten sie sich gegenseitig.
Franciszka und Andrzej Kubiela erwarteten Zwillinge.
Entsetzen durchfloss ihn, als hätte man einen Hahn geöffnet. Er betrachtete die anderen Ultraschallbilder. Drei Monate, vier, schließlich fünf … Auf den aufeinanderfolgenden Bildern war eine Anomalie zu erkennen. Die Föten entwickelten sich nicht auf die gleiche Weise. Einer war dem anderen deutlich überlegen.
Sofort identifizierte sich Kubiela mit dem kleineren, der sich angesichts seines so viel stärkeren Zwillings sichtlich zurückzuziehen schien.
Und plötzlich wurde ihm etwas klar. Der dominante Fötus war sein verborgener Bruder. Ein Kind, das aus der Familie Kubiela entfernt worden war, aus Gründen, die ihm bisher noch verborgen blieben. Der Gedanke wuchs in ihm und breitete sich aus, bis er alles andere überdeckte.
Doch es war reine Theorie.
Er war der unterdrückte Fötus im Leib seiner Mutter.
Und doch war er von seinen Eltern erwählt worden, die Rolle des einzigen Sohnes zu spielen.
Der andere war abgelehnt, vergessen und verleugnet worden.
Und nun kehrte er aus dem Limbus zurück, um sich zu rächen.
Um ihm die Verantwortung für die Morde aufzuhalsen, die er begangen hatte.
D as Museum für zeitgenössische Fotografie von Marne-la-Vallée war in einem Ziegelbau aus dem 19. Jahrhundert untergebracht, der vermutlich früher einmal eine Fabrik gewesen war. Es war einer dieser Orte, wo die Arbeiter jener Zeit
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