Der Ursprung des Bösen
Blut und Wasser geschwitzt hatten und die man heutzutage zu schicken Ateliers für selbst ernannte »Kunstschaffende« umfunktionierte. Konzertsäle, Museen für zeitgenössische Kunst und Bewegungstheater lagen im Trend.
Normalerweise verachtete Anaïs auf Schickimicki getrimmte Domizile, aber dieses Gebäude hatte etwas. Zierrat, kleine Giebel und helle Einfassungen verliehen der Fassade eine künstlerische Vornehmheit. Mit ihrem Fayenceschmuck hätte die ehemalige Fabrik auch in einem altmodischen Badeort stehen können, wie man sie in der Nähe von Istanbul am Bosporus findet.
Es war Anaïs nicht schwergefallen, Solinas’ Bütteln zu entkommen. Gegen 15.00 Uhr, nachdem sie ihnen einige Informationen über den Fall Medina Malaoui gegeben hatte, tat sie so, als wollte sie sich einen Kaffee holen, nahm aber stattdessen den Aufzug. Ganz einfach. Sie hatte einen Hausausweis und Autoschlüssel. Um das zugehörige Fahrzeug zu finden, brauchte sie bloß das Funkschloss zu betätigen. Ihre Erschöpfung wich einem Adrenalinstoß.
Sie machte sich keine Illusionen über die Arbeit ihrer beiden Wachhunde. Aber das war nicht schlimm. Sie setzte ohnehin all ihre Hoffnungen auf die Spur der Daguerreotypien.
Anaïs betrat einen riesigen Raum von mehr als dreihundert Quadratmetern mit Holzboden und lackierten Säulen. Es roch angenehm nach Sägespänen, Klebstoff und frischer Farbe. Eine Ausstellung wurde aufgebaut, und genau die war es, für die sich Anaïs interessierte. Sie sollte das Werk des Fotografen Marc Simonis zeigen, der derzeit die Präsidentschaft der Daguerreotypie-Vereinigung innehatte. Die Eröffnung würde am nächsten Tag stattfinden. Anaïs hoffte, den Künstler bei den Vorbereitungen anzutreffen.
Als sie einen dicken Mann entdeckte, der gelangweilte Arbeiter anbrüllte, die auf den Knien im Sägemehl herumkrochen oder auf Trittleitern herumhantierten, wusste sie, dass sie ihn gefunden hatte. Langsam ging sie auf ihn zu. Sie wollte ihm Zeit lassen, seine Tirade zu beenden.
Einige Werke hingen bereits an den Wänden. Interessiert blieb Anaïs stehen, denn ihr fiel etwas auf, was die Reproduktionen in den Büchern nur unvollkommen wiedergegeben hatten: Bei den Daguerreotypien handelte es sich um Spiegel – reflektierende silbrige oder goldene, blank polierte Oberflächen. Es war diese Besonderheit, die dem Mörder mit Sicherheit gefallen hatte. Er konnte sein Werk, die Ablichtung seines Verbrechens, bewundern und sich dabei selbst betrachten.
Auch die Bilder selbst wirkten in natura viel klarer. Licht und Schatten mischten sich in ihnen zu einem gedämpften Hell-Dunkel. Die Bildplatten waren zwar rechteckig, doch der belichtete Teil war eher oval; er lief nach außen hin zu einem silbrigen Nebel aus. Das erinnerte an die aparten, unruhigen Bilder eines Stummfilms. Das glasklare, gestochen scharfe Zentrum schmerzte fast in den Augen.
Simonis beschäftigte sich hauptsächlich mit Porträtfotografie. Musiker, Akrobaten, Börsianer, Sekretärinnen und Immobilienmakler, die in ihrer Alltagskleidung in einem Licht eingefangen wurden, das dem 19. Jahrhundert zu entstammen schien. Die Wirkung war ambivalent: Plötzlich hatte man den Eindruck, sich in einer noch ungewissen Zukunft zu befinden, in der die Gegenwart längst vergangen war.
»Sie da, was haben Sie hier zu suchen?«
Mit wütender Miene hatte der dicke Fotograf sich vor ihr aufgebaut. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie keinen Dienstausweis mehr besaß. Für einen kurzen, sprachlosen Moment musterte sie ihr Gegenüber. Er war über ein Meter neunzig groß und brachte locker seine hundertzehn Kilo auf die Waage. Ein Riese, der sein Leben genossen hatte und jetzt, mit etwa fünfzig Jahren, wie ein Fleischberg wirkte. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine XXL-Jeans, die wie ein Kartoffelsack aussah. Anaïs ahnte den Grund für den Rolli: Der Mann wollte sein Doppelkinn verbergen.
Simonis stützte die Hände auf die Hüften.
»Warum antworten Sie nicht?«
Anaïs schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln.
»Entschuldigen Sie. Mein Name ist Anaïs Chatelet, und ich bin Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei.«
Der Satz wirkte sofort. Der Mann erstarrte und schluckte. Anaïs konnte sehen, wie sein Doppelkinn sich aufblies und wieder flach wurde. Der Anblick erinnerte sie an eine riesige Boa, die eine Gazelle verschlingt.
»Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Ich brauche lediglich ein paar Informationen über die Technik der
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