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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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haben.
    Franciszkas ärztliche Gutachten sprachen sowohl von akuter Schizophrenie als auch von wiederkehrenden bipolaren Störungen sowie von Angstzuständen. Die Diagnosen waren vielfältig und manchmal sogar widersprüchlich. Flüchtig überflog Kubiela die Auflistung der verschriebenen Medikamente und der Zwangseinweisungen. Bis zum Jahr 2000 hatte sein Vater Andrzej die Einweisungen unterschrieben, danach hatte François den Papierkram erledigt.
    Dieser Umstand erklärte sich durch die zweite wichtige Information, die Kubiela in den Akten fand. Sein Vater war im März 1999 im Alter von 62 Jahren gestorben. Der Totenschein ließ auf einen Unfall im Haus von Freunden schließen. Kubiela senior war von einem Dach gefallen, als er eine Regenrinne anbrachte. Dass es sich um eine Baustelle handelte, wo der Pole schwarz gearbeitet hatte, ließ sich nur zwischen den Zeilen erraten; seine Auftraggeber hatten sich als Freunde ausgegeben, um Ärger mit den Versicherungen und der Polizei zu vermeiden. Ruhe in Frieden, Papa …
    Kubiela fand ein Foto, das seine Eltern bei der Ankunft in Frankreich auf der Esplanade des Trocadéro zeigte – zwei Hippies, die trotz ihrer langen Haare und Schlaghosen ein wenig bäuerlich und provinziell wirkten und direkt aus Schlesien kamen. Franciszka wirkte zart, blond und fragil und sah aus wie die Mädchen auf den Fotos von David Hamilton. Andrzej hingegen entsprach mit seiner dichten Mähne, einem Rasputinbart und buschigen Augenbrauen einem ganz anderen Klischee – dem des polnischen Holzfällers. Sein mächtiger Brustkorb war in ein fadenscheiniges Samtjackett gezwängt. Die beiden Flüchtlinge hielten sich liebevoll umarmt und sahen ihrem Schicksal in Frankreich optimistisch entgegen.
    Die restlichen Dokumente sagten nicht viel über den Alltag der Kubielas aus, bis auf die Tatsache, dass Andrzej ein geradezu begnadeter Mehrfachverdiener war. Nach seiner Ankunft als politischer Flüchtling in Frankreich bekam er schnell einen Job im Tiefbau. 1969 hatte er einen Arbeitsunfall, nach dem er eine Invalidenrente bezog. Nur wenige Jahre später erhielt er zusätzlich einen Zuschuss wegen der geistigen Behinderung seiner Frau, außerdem bekam er mehrere Beihilfen und Unterstützung vom Staat. Trotzdem hatte er nie aufgehört, auf Baustellen zu arbeiten.
    François Kubiela ging zu den Dokumenten über, die ihn selbst unmittelbar betrafen. Hauptschule und Gymnasium hatte er in Pantin absolviert, anschließend besuchte er die Medizinische Fakultät in Paris. Keine Nebenjobs neben dem Studium. François war aufgewachsen wie ein reiches Papasöhnchen. Andrzej hatte nur schwarz gearbeitet, um seinen Sohn zu unterstützen, und François lohnte es ihm. Vom ersten Schuljahr bis zu seiner Doktorarbeit hatte er stets nur Bestnoten erhalten.
    Ganz unten im Karton stieß er auf eine große, flache Schachtel, die möglicherweise vor vielen Jahren einmal einen Kuchen enthalten hatte. Darin fand er Zeitungsausschnitte und Fotos in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Die ersten Umschläge waren auf das Jahr 2000 datiert. Wissenschaftliche Artikel, Besprechungen seiner Arbeiten, manchmal sogar mit Fotos versehen, flatterten ihm entgegen. Kubiela betrachtete die Bilder von sich. Immer hatte er dieses Aussehen eines begabten Wissenschaftlers mit schwarzer Mähne und verführerischem Lächeln.
    In den folgenden Umschlägen fand er ausschließlich Fotos. 1999: Bilder eines sichtlich angeheiterten Kubiela in der Runde fröhlicher Kumpel. Eine Feier anlässlich seines gelungenen Abschlusses. 1992: ein jugendlicher Kubiela, der lächelnd mit einer Tasche unter dem Arm vor der Medizinischen Fakultät in Paris stand. Er trug eine Levis 501, ein T-Shirt von Lacoste und Bootsschuhe. Ein adretter, junger Student, der mit seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse gebrochen hatte.
    1988: Die Bilder zeigten ihn als Siebzehnjährigen mit seinem Vater, der ihn um einen guten Kopf überragte und inzwischen eine gepflegtere Frisur und einen ordentlich getrimmten Bart trug. Vater und Sohn lächelten komplizenhaft und offenbar glücklich ins Objektiv.
    Kubiela wischte sich fluchend die Tränen aus dem Gesicht. Mit Melancholie hatte seine Wehmut allerdings nichts zu tun. Er weinte aus Wut und Enttäuschung. Selbst angesichts seiner ganz persönlichen Fotos erinnerte er sich an rein gar nichts! Seit seiner Flucht vor zwei Wochen war er mit Mördern konfrontiert gewesen, hatte mehrere Identitäten durchlaufen und einen Killer

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