Der Ursprung des Bösen
Fenster. Das Sprechzimmer wirkt röter und goldener denn je.
»Die Entscheidung müssen Sie selbst treffen. Entweder überlässt man es der Natur, oder …«
Er bricht ab und wendet sich dem Paar zu. Seine Worte aber richtet er ausschließlich an die Frau.
»Wir können auch dem Kind helfen, das nicht genügend Nahrung bekommt. Allerdings gibt es nur eine einzige Möglichkeit, es zu retten. Was ich sagen will, ist …«
»Schon gut. Ich habe verstanden.«
In der folgenden Nacht wird die Mutter von einem heftigen Schmerz geweckt. Mühsam schwankt sie ins Bad, wo sie stöhnend zusammenbricht. Der Vater wird wach, springt auf, läuft hinter ihr her und schaltet das Licht an. Seine Frau kauert auf dem Boden. Ihr Bauch ist so angeschwollen, dass ihr Nachthemd zerrissen ist. Die Haut spannt sich ruckweise. Einer der Föten tobt. Er ist wütend. Er will hinaus. Er will allein sein.
»Wir müssen ihn töten!«, schreit die Mutter. Tränen laufen über ihr Gesicht. »Es ist … Es ist der Geist des Bösen! To jest duch złego !«
Kubiela schreckte aus dem Schlaf auf. Er hatte zusammengekrümmt auf dem verschimmelten Parkett gelegen. Sein Gesicht war nass von Tränen. Die Feuchtigkeit des Bodens drang durch seine Kleidung. Draußen war es fast dunkel.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es kaum 16.00 Uhr war. Trotzdem war die Nacht schon fast hereingebrochen. Der Regen hatte wieder eingesetzt und trommelte an die Scheiben. Auch die Kakerlaken waren wieder aktiv. Wie hatte er hier nur einschlafen können? War er etwa nicht in der Lage, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen? Jener Wahrheit, die er nach der Durchsicht der medizinischen Gutachten ahnte?
Er schleppte sich ans Fenster, sah aber nichts als die rinnenden Tropfen an den Scheiben. Es gab weder Straßenlaternen noch anderes Licht. In seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander. Er konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen, hatte aber gleichzeitig den Eindruck, klarer zu sehen denn je. In seinem Albtraum hatte er die Geschichte der Zwillinge Kubiela neu geschrieben. Zwar war es nur ein Traum gewesen, doch er wusste, dass es sich so abgespielt hatte. Zu seinen Füßen lagen die Gutachten und Ultraschallfotos, die er im zweiten Karton gefunden hatte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, welche Entscheidung seine Mutter getroffen hatte. Er wusste, dass er sein Leben einem Mord verdankte. Er war der kleinere Zwilling gewesen, und der Entschluss seiner Eltern hatte ihn im letzten Moment gerettet.
Was sollte er nun tun? Ihm fiel nichts mehr ein. Er war ein Gefangener im eigenen Elternhaus, ein Gefangener der Finsternis. Erst jetzt entdeckte er, dass an der Decke eine nackte Glühbirne hing. Er betätigte den Lichtschalter. Nichts tat sich. Aber er ließ sich nicht entmutigen, ging nach unten und suchte nach dem Sicherungskasten. Ein Druck auf den roten Knopf erzeugte ein trockenes Klicken, was er für ein gutes Zeichen hielt.
Als er in sein Zimmer zurückkehrte, brannte die Lampe.
Er ließ sich auf die Knie nieder und sammelte die Dokumente ein.
Eine Minute später hatte er sich wieder in die Geschichte seiner Herkunft vertieft.
W o finde ich Kommissar Solinas?«
Es war 18.00 Uhr. Auf dem Weg zur Gerichtsmedizin hatte Anaïs sich ein paarmal verfahren, schließlich aber doch mit Blaulicht und Sirene den Quai de Bercy gefunden. Nun stand sie vor dem Schreibtisch der Empfangssekretärin.
»Wo ist Solinas?«
»Drinnen, aber leider dürfen Sie nicht …«
Doch schon war Anaïs auf dem Weg durch die Halle. Die Marmorbüsten schienen ihr mit Blicken zu folgen.
»Das dürfen Sie nicht!«, schrie die Sekretärin hinter ihr, als Anaïs bereits die weißen Türen erreicht hatte.
Ohne sich umzudrehen schwenkte sie ihren Hausausweis und betrat einen hell erleuchteten Flur mit vielen geschlossenen Türen. Alles wirkte makellos. Nirgendwo stand eine Bahre, geschweige denn eine vergessene Leiche herum. Lediglich der starke Geruch nach Desinfektionsmitteln und die Eiseskälte verrieten, dass man sich hier nicht mit lebenden Körpern beschäftigte.
Eine, zwei, drei Türen.
Hinter der vierten Tür fand sie schließlich, wonach sie suchte. Ein Mann im weißen Kittel rannte ihr durch den Flur nach. Schnell trat sie in den Raum, wo sich ihr ein verblüffendes Schauspiel bot.
In dem von OP-Lampen hell erleuchteten Zimmer standen drei bullige Typen ganz in Schwarz zwischen den mit Tüchern bedeckten Leichen. Einer von ihnen war Solinas. Der Kontrast zwischen den schwarzen Anzügen
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