Der Ursprung des Bösen
Solinas. »Gesicht bekannt, andere Identität. Arbeitet angeblich als Werbezeichner und abstrakter Maler.«
»Wieso angeblich?«
»Dieses Mal waren wir schneller als die Typen von der Kripo. Wir haben die Unterlagen, die Chaplain im Mai 2009 dem Makler überlassen hat. Alles getürkt.«
»Und womit verdiente er sein Geld?«
»Ich habe ein paar Leute darauf angesetzt. Auf seinem Bankkonto gingen lediglich Bareinzahlungen ein. Niemals Schecks, niemals Überweisungen. So etwas riecht meilenweit nach Schwindel.«
Anaïs öffnete die Akte und stieß auf weitere Fotos. Es waren sowohl offizielle Dokumente als auch Abzüge von den Sicherheitsvideos in der Rue de la Roquette. Die Zeiten des nachlässigen Psychiaters, des ungepflegten Clochards und des verrückten Malers waren vorbei. Er erinnerte auch nicht mehr an den Mann, der sie in Fleury besucht hatte.
Auf einem der Bilder glänzte seine Gürtelschnalle wie ein Sheriffstern.
»Er ist unschuldig«, wiederholte Anaïs. »Er muss beschützt werden.«
»Die Soldaten von vorhin werden ihn bestimmt kaltmachen.«
»Nicht, wenn wir ihn vorher verhaften. Wir erpressen sie einfach mit unserer Akte. Sobald Freire in Sicherheit ist, drohen wir ihnen, die Medien auf sie anzusetzen.«
»Eben hast du noch selbst gesagt, dass wir gegen diese Kerle nichts ausrichten können.«
»Niemand mag solche Drohungen. Und wenn es uns gelingt, den wahren Mörder zu entlarven, wird uns das zugutekommen.«
»Allerdings hat Janusz gerade erst zwei von ihren Leuten erledigt.«
»Aus Notwehr. Es war ein Kollateralschaden. Soldaten sollten das verstehen.«
Solinas antwortete nicht. Vielleicht erkannte er die vage Möglichkeit, sich mit der Verhaftung des wirklichen Mörders die begehrten Sporen verdienen zu können.
»Trotzdem weiß ich noch immer nicht, wo du heute Nachmittag abgeblieben bist.«
Es machte keinen Sinn mehr, Versteck zu spielen. Mit wenigen Worten schilderte Anaïs ihre Recherchen zu den Daguerreotypien. Sie sprach von der mit Jod bedampften Spiegelscherbe, die man bei Ikarus gefunden hatte, und ihrer Hypothese, dass der Mörder seine Werke fotografierte. Sie erklärte die hundertfünfzig Jahre alte Methode und dass es in Frankreich noch vierzig Fotografen gab, die diese Technik benutzten.
»Aha, Anaïs und die vierzig Wichser.«
»Das, was ich angefangen habe, bringe ich auch zu Ende. Zumindest die zwanzig Fotografen in der Umgebung von Paris werde ich besuchen und ihre Alibis für den Zeitpunkt der Morde überprüfen. Danach sehen wir weiter.«
Solinas räusperte sich, zog seinen Mantel zurecht und wurde sichtlich ruhiger. Die Energie seiner kleinen Kollegin schien ihn zu ermutigen.
»Setzt du mich am Büro ab?«
»Tut mir leid, aber dafür habe ich keine Zeit. Ruf dir einen Dienstwagen. Oder nimm ein Taxi. Wenn ich die Nacht durchmache, kann ich die Liste bis morgen Mittag erledigt haben.«
Der Kommissar grinste und betrachtete die Umgebung – das Gitter des Jardin des Plantes, den Boulevard de l’Hôpital mit seinem dichten Verkehr, den Bahnhof Austerlitz, der frisch renoviert war und wie eine Kulisse aus Stuck aussah.
Schließlich öffnete er die Wagentür und zwinkerte Anaïs zu.
»Dieser Spinner geht dir ganz schön unter die Haut, nicht wahr?«
E ndlich sah Kubiela ganz klar.
Im Licht der Glühlampe in seinem Zimmer – die Läden hatte er geschlossen – analysierte er die medizinischen Gutachten, die er in dem Umschlag gefunden hatte. Namen, Zahlen, Daten. Jetzt konnte er rekonstruieren, was sich tatsächlich während Franciszkas Schwangerschaft abgespielt hatte. Seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Zwillingsforschung kamen ihm dabei zugute.
Eineiige Zwillinge entstehen aus derselben befruchteten Eizelle. Ihre Erbinformationen sind identisch. Im Mutterleib sind sie nur durch eine dünne Membran getrennt. Sie stehen ununterbrochen miteinander in Kontakt, berühren und stoßen sich und sehen einander an. Jeder bildet ein Erfahrungsgebiet für den anderen. Sie entwickeln eine besondere Verbindung; obwohl sie zwei Wesen sind, empfinden sie sich zeitweise als eines. Vom vierten Schwangerschaftsmonat an arbeiten die fünf Sinne der Föten. Sie empfinden Gefühle und Emotionen und teilen sie. Jeder Fötus wird zur Quelle und zur Resonanz des anderen.
Die Grundlage solcher Verbindungen ist normalerweise Liebe. Bei den Kubiela-Zwillingen war es Hass.
Vom dritten Schwangerschaftsmonat an zeigten die beiden Föten ein unterschiedliches Verhalten. Einer wirkte
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