Der Ursprung des Bösen
sicher regelmäßig besucht. Das Personal der Station, auf der seine Mutter untergebracht war, hatte sicher von seinem Tod erfahren. Und wenn nun ein Pfleger sein Bild in den Nachrichten gesehen hatte?
Pavillon 7. Er kannte die Gitterzäune und die mit Doppelschlössern gesicherten Tore. Man benutzte sie für die Räumlichkeiten, in denen gefährliche Patienten bewacht werden mussten. Er läutete. Eine breitschultrige Frau mit unfreundlichem Gesicht kam auf ihn zu. Sie verzog keine Miene; offenbar hatte sie ihn nicht erkannt. Er nannte den Namen seiner Mutter. Franciszka Kubiela lebte tatsächlich in diesem Pavillon. Die Krankenschwester war neu hier.
Durch das Gitter hindurch erklärte Kubiela sein Anliegen. Er erfand Auslandsaufenthalte und andere Ausreden für seine Abwesenheit, wobei er ständig befürchtete, das Mannweib könnte nach seinen Papieren fragen. Um Eindruck zu schinden, ließ er ein paar psychiatrische Fachausdrücke fallen. Es wirkte. Die Krankenschwester entriegelte das Tor.
»Ich begleite Sie«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Sie gingen durch Alleen, die von hundertjährigen Bäumen und Rasenflächen gesäumt wurden. Die nackten Äste sahen aus wie ausgerissene Stromkabel. Unterwegs trafen sie auf einige Insassen, die sie mit apathischen Blicken, hängenden Armen, triefendem Mund oder rissigen Lippen anstarrten. Das Übliche eben.
»Dort ist sie«, sagte die Krankenschwester. Kubiela sah eine in einen knallblauen Anorak gehüllte Gestalt auf einer Bank. Das Gesicht konnte er unter den starren grauen Haaren nicht erkennen. Sie trug riesige Turnschuhe, unter deren Sohlen Federn montiert zu sein schienen. Er ging auf die seltsame Frau zu. Die Krankenschwester folgte ihm.
»Schon gut«, sagte er, »Sie können mich jetzt allein lassen.«
»Leider nein. Ich muss Sie begleiten. Wir haben unsere Vorschriften.« Sie lächelte ihn an, um die Wirkung ihrer Worte abzumildern. »Sie ist gefährlich.«
»Ich bin Manns genug, mich zu verteidigen.«
»Sie bringt sich selbst in Gefahr. Man weiß nie, wie sie reagiert.«
»Gut, dann bleiben Sie eben hier stehen. Falls irgendetwas passiert, können Sie ja eingreifen.«
Die Krankenschwester verschränkte die Arme und beobachtete wachsam die Frau. Kubiela ging weiter. Er erwartete ein bleiches Gespenst aus Haut und Knochen mit ausgemergelten Gesichtszügen, aber seine Mutter war eher aufgedunsen. Das ganze Gesicht wirkte fett. Vermutlich eine Nebenwirkung der Medikamente. Außerdem fielen ihm die ersten Anzeichen eines malignen neuroleptischen Syndroms auf: Muskelsteife und zitternde Finger.
Franciszka rauchte eine Zigarette und hielt dabei die Hand ganz nah an ihr Gesicht. Ihre Züge wurden durch eine Art unbestimmter Wut verzerrt. Ihre Haut wies dunkle Flecken auf. In der freien Hand hielt sie ein Paket Zigaretten und ein Feuerzeug.
»Mama?«
Sie zeigte keine Reaktion. Noch ein Schritt. Erneut sprach er sie an. Das Wort schnitt in seine Zunge wie eine Rasierklinge. Schließlich blickte sie ihn an, ohne den Kopf zu bewegen. Sie sah aus wie eine Besessene.
Kubiela setzte sich neben sie auf die Bank.
»Ich bin es, Mama. François.«
Sie musterte ihn genauer. Ihr Gesicht verzog sich noch mehr, ehe sie langsam nickte. Und plötzlich entdeckte er noch etwas anderes: Ihre Miene spiegelte Entsetzen. Mühsam kreuzte sie die Arme und verschränkte sie über ihrem Leib. Ihre Lippen zitterten. Kubiela spürte, wie seine Haut zu prickeln begann. Er hatte auf Geständnisse gehofft, doch er würde Elektroschocks erhalten.
»Co chcesz?«
»Ich verstehe kein Polnisch.«
»Was willst du?«
Ihre Stimme klang feindselig. Sie krächzte wie ein Motor, der lange nicht gelaufen war. Ihre schmalen Lippen wirkten wie ein Schnitt in ihrem geschwollenen Fleisch.
»Ich möchte über meinen Bruder sprechen.«
Sie umklammerte ihren Bauch noch fester, als wolle sie den Uterus schützen, der ihn und seinen dunklen Bruder beherbergt und in dem es nur Hass und Bedrohung gegeben hatte – ihren Bauch, in dem heute vermutlich nur noch die Medikamente ein gequältes Gurgeln erzeugten.
»Welcher Bruder?«, fragte sie und zündete sich die nächste Zigarette mit dem Stummel der vorigen an.
»Der Bruder, der mit mir zusammen geboren wurde.«
»Du hast keinen Bruder. Ich habe ihn rechtzeitig getötet.«
Kubiela beugte sich vor. Trotz des Windes roch er ihren Gestank nach altem Schweiß, Urin und Einreibemitteln.
»Ich habe den Arztbericht gelesen.«
»Er wollte dich
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