Der Ursprung des Bösen
aufforderten, endlich in Erscheinung zu treten. Und der Aufruf war erhört worden. Der dunkle Zwilling hatte durch die Serienmorde auf sich aufmerksam gemacht. Der ungeliebte, verstoßene Sohn, das Kind des Teufels, beging Morde, bei denen er sich an uralten Mythen orientierte, weil er sich für den gerechten Helden einer universellen Geschichte hielt. Es war die Rückkehr des verlorenen Sohns. Die Rache des bedrängten Idols. Ödipus. Jason. Odysseus.
Und er hatte alles so eingefädelt, dass man François die Schuld an den Morden anlasten musste und dass er entweder hinter Schloss und Riegel oder im Kugelhagel der Polizei enden würde.
A miens. Es war 11.00 Uhr vormittags.
Die Klinik Philippe-Pinel ist eine Backsteinfestung, in der ausschließlich psychisch Kranke behandelt werden. Die Zitadelle stammt aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit also, in der solche Anstalten noch in sich abgeschlossene Ortschaften waren, wo die Kranken ihr eigenes Gemüse anbauten, Vieh züchteten und sogar untereinander Familien gründeten. Damals hielt man Geisteskrankheiten für unheilbar. Sie galten als Anomalie, die man aus der Gesellschaft verbannen musste und tunlichst vor ihr versteckte.
Das Gelände von Philippe-Pinel umfasst mehr als dreißig Hektar.
Nachdem er das erste Tor passiert hatte, ging Kubiela eine lange, baumbestandene Allee entlang zur zweiten Umfriedung, die mit ihren rotbraunen Backsteinen wie die Mauer einer Festungsstadt wirkte.
Mitten in der Nacht war er zwischen seinen Papieren und den Ultraschallfotos eingeschlafen. Er hatte nicht einmal mehr die Energie gehabt, seine Lampe auszuknipsen. Wieder hatte er von Föten geträumt, die einander in einem Wald aus Blutgefäßen bekämpften. Als er schweißgebadet aufgewacht war, herrschte noch finstere Nacht. Nur seine nackte Glühbirne umgab ihn mit ihrem Licht, das an ranzige Butter erinnerte. Trotz seines Muskelkaters und seiner düsteren Gedanken war ihm eins klar geworden: Er konnte nicht weiterkommen, ohne zu seinem Ursprung zurückzukehren. Zu seiner Mutter. Am Bahnhof Gare du Nord hatte er sich in den Zug gesetzt, war nach Amiens gefahren und hatte ein Taxi nach Dury genommen, wo die Klinik in der Nähe der Präfektur der Picardie liegt.
Zweite Umfriedung. Als Psychiater war er an die Sicherung der Kliniken gewöhnt, doch die Dicke der Mauern beeindruckte ihn. Sie waren so breit, dass man einen Tunnel hätte hineingraben können. Rings um eine Kapelle waren Gebäude unterschiedlicher Größe angeordnet, die tatsächlich wie eine kleine Stadt wirkten. Es gab einen Bahnhof, ein Rathaus und Geschäfte.
Kubiela mied den Empfang und versuchte sich anhand der Hinweisschilder zu orientieren. Doch das war nicht möglich. Die einzelnen Blocks trugen lediglich Nummern, boten aber keinen Anhalt zur geografischen Herkunft oder dem Leiden ihrer Insassen.
Aufs Geratewohl bewegte er sich vorwärts. Keine Menschenseele war zu sehen. In den über hundert Jahren ihres Bestehens waren die Häuser zwar umgebaut worden, doch der Eindruck der schmucklosen Fassaden, der mit römischen Ziffern gekennzeichneten Fronten und der Gewölbe war derselbe geblieben. Alles wirkte sehr solide – genau wie in Sainte-Anne.
Eine fahle Wintersonne hatte sich durch die Wolken gekämpft. Obwohl er zügig ging, fröstelte ihn. Noch war er nicht in der Lage, die neuerliche Wendung wirklich zu erfassen. Er würde seine Mutter sehen. Der Gedanke jagte ihm zwar einerseits Angst ein, auf der anderen Seite jedoch fühlte er sich gewappnet. Seine Erinnerung war so verschlossen wie die Backsteinmauern, die ihn umgaben.
Schließlich begegnete er zwei Krankenschwestern. Er erklärte, dass er seine seit Jahren hier lebende Mutter besuchen wolle. Die beiden Frauen wechselten einen Blick. Mit seiner zerknitterten Kleidung und dem unrasierten Gesicht sah Kubiela eher wie jemand aus, der selbst eingewiesen worden war. Wie ging es außerdem an, dass ein Sohn nicht wusste, wo seine Mutter untergebracht war, wenn sie tatsächlich schon so lang hier lebte? Den Namen kannten sie nicht, was angesichts von fünfhundert Patienten kein Wunder war. Doch sie erklärten ihm, dass die chronisch Kranken den Pavillon mit der Nummer 7 drei Blocks weiter im Westen der Anlage bewohnten.
Kubiela schlug diese Richtung ein. Er spürte die Blicke der Krankenschwestern im Rücken. Aber es hätte durchaus schlimmer kommen können. Was, wenn sie ihn erkannt hätten? Als er noch ganz offiziell existierte, hatte er seine Mutter
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