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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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töten. Ich habe dich gerettet.«
    »Nein, Mama«, entgegnete er sanft. »Die Operation hat nie stattgefunden. Es war nicht mehr nötig. Warum weiß ich auch nicht. Es gibt keine Berichte über diese Zeit.«
    Sie antwortete nicht.
    »Ich war in deinem Haus«, fuhr er fort. »In der Rue Jean Jaurès in Pantin, erinnerst du dich? Ich habe Ultraschallbilder und Untersuchungsberichte gefunden, aber nichts über die Entbindung. Noch nicht einmal Geburtsurkunden. Was genau ist damals passiert?«
    Stumm und starr saß sie auf der Bank.
    »Sag es mir bitte«, drängte er. »Warum hat mein Bruder überlebt?«
    Franciszka schwieg. Ab und zu zog sie hastig an ihrer Zigarette
    »Bitte, Mama. Erzähl es mir!«
    Doch Franciszka blieb wie versteinert. Mit starren Augen blickte sie vor sich hin. Ziemlich verspätet fiel ihm auf, dass er sich völlig falsch verhielt. Anstatt als verständiger Psychiater redete er mit ihr wie ein erregter Sohn. Er versuchte in ihr Gehirn einzudringen, ohne vorher anzuklopfen. Er hatte kein Wort über seine einjährige Abwesenheit verloren und auch nichts über die Gründe gesagt, die ihn dazu brachten, die Vergangenheit so brutal wiederzuerwecken.
    »Erzähl es mir, Mama«, wiederholte er ruhiger. »Am 18. November 1971 bin ich in einem Krankenhaus in Pantin geboren. Ich war nicht allein. Aber du hast es abgelehnt, meinen Bruder aufzuziehen. Er ist woanders aufgewachsen, weit weg von uns, und hat bestimmt unter seiner Einsamkeit gelitten. Wo ist er jetzt? Ich muss mit ihm reden.«
    Ein leichter Wind erhob sich. Der unangenehme Geruch seiner Mutter schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Kühle und Wärme vereinigten sich und verstärkten den Pesthauch. Franciszka schwitzte in der Sonne.
    »Mein Bruder ist wieder da«, flüsterte Kubiela nur wenige Zentimeter von ihrem fettigen Haar entfernt. »Er rächt sich. Er tötet Obdachlose und versucht mir die Schuld dafür anzulasten. Er …«
    Kubiela verstummte. Die schizophrene Frau hörte ihm nicht zu. Oder sie verstand nicht. Immer noch starrte sie vor sich hin und zog dann und wann an ihrer Zigarette. Hier würde er keine Antwort bekommen.
    Als er aufstehen wollte, krallte sich eine Hand in seinen Arm. Er sah seine Mutter an. Franciszka hatte ihr Feuerzeug fallen lassen. Mit eiskalten Fingern hielt sie ihn am Ärmel fest. Kubiela griff nach der krallenartigen Hand und löste sie vorsichtig aus dem Stoff, wie er es mit der erstarrten Hand einer Toten getan hätte.
    Franciszka lachte. Sie schüttelte sich geradezu vor Lachen.
    »Was ist denn daran so lustig?«
    Zunächst lachte sie weiter, doch dann brach sie unvermittelt ab, um hastig an ihrer Zigarette zu saugen, als wäre es eine Sauerstoffmaske.
    »Was ist los, um Himmels willen?«
    »Der Zwilling ist geboren«, stieß sie schließlich hervor. »Gleichzeitig mit dir. Aber er war tot. Er wurde drei Monate zuvor getötet, mit einer langen, langen Nadel. Psiakrew! « Mit einer heftigen Geste griff sie nach ihrem Bauch. »In meinem Bauch war ein toter Teufel. Er ist verfault und hat das Fruchtwasser vergiftet. Auch dich hat er vergiftet.«
    Kubiela sank auf die Bank zurück.
    »Was … Was sagst du da?«
    Er zitterte und hatte den Eindruck, dass sein Kopf kurz vor dem Platzen war.
    »Die Wahrheit«, murmelte Franciszka zwischen zwei Zügen.
    Sie wischte sich ausgiebig die Lachtränen aus den Augen.
    »Er wurde getötet, kotek . Aber man konnte ihn vor der Geburt nicht entfernen. Es wäre für dich zu riskant gewesen. Und so ist sein Geist dort drinnen geblieben.« Sie drückte auf ihren Bauch. »Er hat dich angesteckt, moj syn …«
    Wieder zündete sie sich eine Zigarette an der vorigen an, dann schlug sie ein Kreuzzeichen.
    »Er hat dich angesteckt. Und mich auch.«
    Sie betrachtete das glühende Ende ihrer Zigarette und pustete darauf wie ein Feuerwerker auf seine Zündschnur.
    »Das Gift ist noch immer in meinem Bauch. Ich muss mich davon reinigen.«
    Sie öffnete ihren Anorak. Darunter trug sie ein schmuddeliges Nachthemd. Mit einer einzigen Bewegung hob sie es hoch. Ihre Haut war bedeckt mit Brandwunden und Narben in Form eines christlichen Kreuzes.
    Bis Kubiela begriffen hatte, war die Krankenschwester schon bei ihr. Doch sie kam zu spät. Franciszka hatte die Zigarette auf ihrer grauen Haut ausgedrückt und dabei auf Polnisch ein Gebet gemurmelt.

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