Der Ursprung des Bösen
musste.
Sofort machte er sich auf die Suche nach dem Arzt und war erfolgreich. Toinin wohnte noch immer in Pantin, in der Rue Benjamin-Delessert. Sozusagen gleich um die Ecke. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Möglicherweise erinnerte sich der Psychiater noch an Einzelheiten.
Zu Fuß machte er sich auf den Weg. Mit in den Taschen vergrabenen Händen und hochgeklapptem Mantelkragen drückte er sich an den Mauern entlang. Noch einmal überdachte er seine eigene Version der Geschichte. Seine Mutter war verrückt geworden. Sein Bruder hatte 1971 überlebt und war weggegeben worden, weil seine Eltern ihn ablehnten. Nach seinem Besuch bei dem Psychiater würde er sich erneut auf die Spur seines Zwillings begeben und versuchen, ihn zu finden.
Am Ende seines Weges durch ein Labyrinth aus schmalen Gassen und zwielichtigen Baracken stand Kubiela schließlich vor einem Eisentor. Er stellte sich auf die Zehenspitzen. Im Gemüsegarten kniete ein alter Mann und kümmerte sich um die Pflanzen. Die Arbeit mit der Gartenschere schien ihn ganz und gar in Anspruch zu nehmen. Ob er sich erinnern konnte? Wahrscheinlich war er der letzte Mensch auf der Welt, der wusste, was sich am Tag von Kubielas Geburt abgespielt hatte.
Kubiela läutete. Eine Minute verging. Erneut stellte er sich auf Zehenspitzen und sah, dass der Alte unbeirrt weiterarbeitete. Er drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf. Deutlich länger. Schließlich richtete der Gärtner sich auf, warf einen Blick zur Tür und nahm seine Kopfhörer ab – er hatte mit Musik gearbeitet. Kubiela winkte ihm über das Tor hinweg zu. Der Mann legte seine Gartenschere fort und stand auf. Er war groß, stämmig und hielt sich ein wenig gebückt. Außer einem unförmigen Anorak trug er einen mit Erde verkrusteten blauen Overall, Gummistiefel, Gartenhandschuhe und einen uralten Panamahut. Er öffnete.
»Entschuldigen Sie«, sagte er lächelnd, »ich hatte Sie nicht gehört.«
Obwohl er über siebzig sein musste, war sein Blick wach und lebhaft. Sein gut geschnittenes, ein wenig an Paul Newman erinnerndes Gesicht war von vielen Falten durchzogen, als ob jedes Lebensjahr eine Markierung hinterlassen hätte. Unter seinem Hut lugten glänzende silberne Strähnen hervor. Er roch nach frischer Erde und Insektenvernichter.
»Sind Sie Jean-Pierre Toinin?«
»Der bin ich.«
»Mein Name ist François Kubiela.«
Der alte Mann streifte einen Handschuh ab und schüttelte ihm die Hand.
»Sie werden entschuldigen – aber kennen wir uns?«
»Sie haben meine Mutter Franciszka Kubiela 1971 behandelt. Sie war mit Zwillingen schwanger, von denen nur einer die Schwangerschaft überlebte.«
Toinin fuhr mit der Hand unter seinen Hut und kratzte sich am Schädel.
»Ach ja, Kubiela … Es ist schon eine ganze Weile her.«
»Ich bin jetzt 39 Jahre alt. Könnte ich … Könnten wir uns unterhalten?«
»Aber natürlich«, antwortete der alte Mann und trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie doch bitte herein.«
Kubiela folgte seinem Gastgeber und betrat den Garten. Alte Bäume wachten über frisch gestutzte Hecken. Neben Erdlöchern standen niedrige Büsche, die Winterschlaf zu halten schienen. Alles wirkte naturbelassen und ein wenig zufällig, doch das war offenbar Absicht.
»Im Februar müssen die Pflanzen zurückgeschnitten werden«, erklärte der alte Mann. »Allerdings nur die Sommerblüher. Finger weg von denen, die im Frühling blühen.«
Er ging auf ein etwas größeres Loch zu, neben dem sich ein kleiner Erdhaufen türmte, setzte sich daneben und griff nach einer Tuchtasche, aus der er eine Thermoskanne und zwei Becher holte. Es duftete nach frisch umgegrabener Erde und geschnittenem Gras.
»Kaffee?«
Kubiela nickte und suchte sich eine Stelle, wo er sich setzen konnte. Sie sahen aus wie zwei Totengräber, die am offenen Grab Pause machten.
»Sie haben Glück, dass Sie mich antreffen«, sagte Toinin, während er vorsichtig die Plastiktassen füllte. »Ich komme nämlich nur am Wochenende.«
»Dann wohnen Sie gar nicht in Pantin?«
Er reichte Kubiela eine Tasse. Seine Fingernägel waren schwarz, seine Hände gebräunt.
»Nein, mein Freund«, lächelte der Alte. »Ob Sie es glauben oder nicht: Ich praktiziere noch.«
»In einem medizinischen Zentrum?«
»Nein. Ich leite eine kleine Praxis in einer psychiatrischen Klinik bei La Rochelle.« Er zuckte die Schultern. »Immerhin eine Beschäftigung auf meine alten Tage. Unheilbare Fälle – genau wie ich.«
Während er den
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