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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Becher an die Lippen hob, musterte Kubiela Toinins Gesicht. Es sah aus wie eine Satellitenkarte mit Höhenlagen, Flüssen und Erosionsrinnen.
    »Was genau kann ich für dich tun?«, fragte der Arzt.
    Kubiela war etwas überrascht, dass der alte Mann ihn duzte, doch dann freute er sich sogar darüber. Immerhin kannte der Arzt ihn seit seiner Geburt.
    »Ich bin auf der Suche nach meiner Herkunft und nach den genauen Umständen meiner Geburt.«
    »Das ist nur natürlich. Haben deine Eltern dir nie etwas erzählt?«
    Kubiela entschloss sich zur Kurzversion.
    »Mein Vater ist tot, und was meine Mutter angeht, so …«
    Toinin nickte ernst, während er in seinen Kaffee starrte.
    »Nach deiner Geburt habe ich deine Entwicklung verfolgt. Damals leitete ich eine öffentliche Station hier in Pantin. Deine Mutter litt unter schweren Verwirrungszuständen, aber das weißt du ja selbst. Im Einverständnis mit deinem Vater haben wir sie zwangseingewiesen. Du weißt, was das bedeutet?«
    »Ich bin selbst Psychiater.«
    Der Mann lächelte und hob seinen Becher, als wollte er ihm auf ihrer beider Wohl zuprosten. In seinem Gesicht lag ein gewisser Zynismus, fast eine desillusionierte Grausamkeit, doch seine sehr hellen Augen verliehen ihm gleichzeitig eine klare Heiterkeit. Sie waren wie kleine Seen in einer kargen Berglandschaft.
    »Lebt deine Mutter noch?«
    »Sie lebt noch, aber ihr geistiger Zustand hat sich keineswegs verbessert. Sie ist überzeugt, dass die selektive Abtreibung tatsächlich stattgefunden hat und dass mein Zwillingsbruder im Mutterleib getötet wurde.«
    Der alte Mann hob die Augenbrauen.
    »Du etwa nicht?«
    »Nein.«
    »Warum?«
    »Es gibt Beweise dafür, dass mein Zwillingsbruder noch lebt.«
    »Was für Beweise?«
    »Darüber möchte ich mich nicht äußern.«
    Toinin schob wie ein Cowboy seinen Hut mit dem Zeigefinger zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus.
    »Tut mir leid, mein Freund, aber du irrst dich. Ich war bei der Prozedur anwesend.«
    »Wollen Sie etwa behaupten …«
    »Ich erinnere mich nicht des genauen Datums. Deine Mutter war etwa im sechsten Monat. Nur einer der Föten konnte überleben, und man musste eine Wahl treffen. Das hat deine Mutter getan, allerdings mit einer … sagen wir, recht konfusen Begründung. Aber dein Vater hat ihre Entscheidung bestätigt.«
    Kubiela schloss die Augen. Seine Finger krampften sich um den Becher. Kaffee rann über seine Hände, doch er spürte die Hitze nicht. Ihm war, als stünde er am Rand einer Klippe mit einem Fuß über der Kante.
    »Sie müssen sich irren.«
    »Ich war dabei«, wiederholte Toinin und trat mit dem Absatz in die lockere Erde. »Ich habe die Operation begleitet. Als ihr Psychiater musste ich deiner Mutter bei dieser Zerreißprobe beistehen. Ich denke allerdings, dass ihr ein Priester lieber gewesen wäre.«
    Kubiela ließ den Kaffeebecher fallen und vergrub seinen Kopf zwischen die Hände. Nun versank er also doch in dem Abgrund, den er so gefürchtet hatte. Drei Morde, und nur einer trug die ganze Schuld. Er selbst .
    Schließlich hob er den Kopf. Er klammerte sich an einen letzten Strohhalm.
    »In den Unterlagen meiner Eltern findet sich nicht der geringste Hinweis auf den Eingriff. Weder Untersuchungsberichte noch Rezepte für Medikamente – nichts dergleichen. Es gibt kein Dokument, das den Fetozid bestätigt.«
    »Wahrscheinlich haben sie alles vernichtet. Schließlich ist das nicht die Art von Erinnerung, die man gern bewahrt.«
    »Aber ich habe auch nichts über die Entbindung gefunden«, fuhr Kubiela trotzig fort. »Weder einen Nachweis über den Krankenhausaufenthalt noch eine Geburtsurkunde.«
    Der alte Mann stand auf und kniete sich vor Kubiela hin, als wollte er ein Kind trösten.
    »Du musst das verstehen«, flüsterte er und legte dem jungen Mann die Hände auf die Schultern. »Deine Mutter hat nicht nur dich geboren, sie musste auch deinen toten Bruder zur Welt bringen. Als der Eingriff stattfand, war es unmöglich, den Fötus zu entfernen, weil du sonst auch gestorben wärst. Sie musste also abwarten und hat schließlich zwei Kinder geboren, ein lebendes und ein totes.«
    Kubiela unterdrückte ein Stöhnen. Es gab also keinen diabolischen Bruder. Keinen Rächer. Nur er selbst war übriggeblieben. Aber der andere Zwilling hatte ihm seinen Stempel aufgedrückt. Er wurde heimgesucht, er war besessen. Er war gleichzeitig der Dominante und der Dominierte.
    Mühsam stand er auf. Die Erde schien sich unter seinen Füßen

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