Der Ursprung des Bösen
aufzutun. Er nickte dem alten Mann einen Gruß zu und ging zum Tor.
Lange lief er blindlings wie durch einen Nebel. Als er schließlich aus seiner Trance erwachte, befand er sich in einer ihm unbekannten Straße. Er sah seinen Schatten, der ihm über Mauern, Backsteinfassaden und den Bürgersteig folgte. Der Traum von Patrick Bonfils fiel ihm ein. Der Traum, den auch er selbst geträumt hatte. Der Traum, in dem er seinen Schatten verlor … Jetzt erlebte er das Gegenteil. Er war der Mann, der seinen Schatten wiedergefunden hatte. Seine dunkle Seite. Sein negatives Double. Seine Mutter hatte recht gehabt. Der böse Zwilling hatte ihn im Mutterleib durchdrungen, infiltriert und angesteckt.
Sein ganzes Leben lang hatte er diese Bedrohung auf Abstand gehalten. Sein ganzes Leben lang war es ihm gelungen, das Böse in sich zu unterdrücken. Daher auch der hilflose Ausdruck auf den Fotos! Vielleicht hatte der kleine François Angst vor anderen Menschen, aber vor allem hatte er Angst vor sich selbst. Auch seine Entschlüsse im Leben sprachen dafür. Er hatte sich für die Psychiatrie entschieden und seine Doktorarbeit über Zwillinge geschrieben. Als Arzt hatte er sein Hauptaugenmerk auf Themen wie multiple Persönlichkeiten und Schizophrenie gerichtet.
Indem er den Wahnsinn anderer studierte, konnte er seine eigene geistige Störung unterdrücken. Die Ironie lag darin, dass seine Leidenschaft ihn zur Quelle des Übels zurückgeführt hatte. Er hatte sich für die Fälle von Christian Miossens, Patrick Serena und Marc Karazakian interessiert und seine eigenen Recherchen geführt. Er hatte sich in das Matrjoschka-Netzwerk eingeschlichen und war so zum Versuchskaninchen unter vielen anderen geworden. Ein »Reisender ohne Gepäck«.
Aber nicht nur das.
Das Serum von Mêtis hatte den dunklen Zwilling wiedererweckt. Unter dem Einfluss des Medikaments war seine Kontrolle über die dunkle Seite in ihm geschwunden. Das bösartige Double hatte seine Rechte an Kubielas Seele zurückgefordert.
Er selbst war der mythologische Mörder. Auf irgendeine Weise führte das Phantom seines Bruders ein reales Leben innerhalb seiner eigenen Existenz. Aber wie war es möglich, dass Kubiela immer wieder zu einem anderen Menschen wurde, ohne sich je zu erinnern? War er eine Art Doktor Jekyll und Mister Hyde?
Er hob den Kopf und wurde gewahr, dass er mit hochgezogenen Knien in einer Toreinfahrt saß und bitterlich weinte.
Plötzlich aber lächelte er unter Tränen. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass es eine ganz selbstverständliche Lösung für seine Situation gab. Wenn er den mythologischen Mörder ausschalten wollte, musste er sich selbst töten.
S asha hat ausgepackt.«
Anaïs begriff nicht gleich.
»Sasha?«
»Die Chefin der Partnerschaftsvermittlung.«
»Okay. Und was ist dabei herausgekommen?«
»Nicht gerade viel. Die Dame ist völlig am Ende. Sie hat uns erzählt, dass Leute aus ihrem Club auf mysteriöse Weise verschwunden sind.«
»Frauen?«
»Nicht nur. Auch Männer. Sie kapiert überhaupt nichts und will nicht wahrhaben, dass ihr Laden so gut wie pleite ist. Die Frau steht auf dem sinkenden Schiff und klammert sich noch immer ans Ruder.«
18.00 Uhr.
Anaïs war beim zwölften Namen. Wenn sie so weitermachte, würde sie es vielleicht bis Mitternacht schaffen. Sie war auf dem Boulevard Périphérique in Richtung Norden unterwegs, als Solinas anrief.
»Was hat Sasha zu Medina gesagt?«
»Die Kleine ist dem Club Anfang 2009 beigetreten und irgendwann im August nicht mehr gekommen. Mehr weiß sie nicht.«
»Ist ihr nicht aufgefallen, dass Medina nicht dem üblichen Stil des Clubs entsprach?«
»Schon, aber das war ja nicht ihr Problem.«
»Weiß sie, wonach Medina suchte?«
»Nein. Es muss da noch ein anderes Mädchen gegeben haben, eine gewisse Anne-Marie Straub alias Feliz. Sasha meint, dass beide Hostessen waren.«
»Und sie hat wirklich nicht die geringste Ahnung, was diese Frauen bei ihr suchten?«
»Ganz offensichtlich nicht. Eins ist sicher: Sashas Netzwerk ist eher für die kleinen Leute gedacht. Damen dieses Kalibers dürften sich eher nicht dafür interessieren.«
»Und diese Feliz? Sollten wir sie vielleicht verhören?«
»Geht nicht. Sie hat sich im Januar 2009 das Leben genommen.«
Zwei tote Escort-Girls innerhalb weniger Monate, die zudem beide im gleichen Kennenlern-Portal registriert waren. Das konnte kein Zufall sein.
»Weiß man den Grund?«
»Gar nichts weiß man. Sie hat sich erhängt. Laut
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