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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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andere Möglichkeit, ihrer habhaft zu werden. Der mythologische Mörder hatte eine mit Silber bedampfte Platte zerbrochen, als er Ikarus fotografierte. Er hatte alle Spuren beseitigt, doch dieser eine Splitter war ihm entgangen – und das würde ihm zum Verhängnis werden.
    Sie konzentrierte sich auf die Straße. Es war bereits dunkel, doch der Verkehr lief ohne Störung. Sie folgte der Beschilderung. Zwei Ecken weiter fand sie ohne Probleme ihr Ziel. Aber einmal ist keinmal. Angesichts der Resultate, die Solinas vorzuweisen hatte, erschien ihr ihre eigene Spur plötzlich nebensächlich. Viel wichtiger waren die verschwundenen Escort-Girls.
    Ein Parkplatz direkt vor dem Haus: Ihre Glückssträhne hielt an. Anaïs stieg aus und schwor sich, hier noch schneller vorzugehen. Sie klingelte am Tor des Einfamilienhauses und rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Der feuchte Nebel ihres Atems blieb unter den Bogenlampen hängen.
    Das Eisentor bewegte sich. Als sie den alten Mann mit seinem abgetragenen Panamahut sah, war ihr klar, dass sie ihre Fragen gar nicht erst zu stellen brauchte. Undenkbar, dass dieser Siebzigjährige der Mörder war.
    Am liebsten wäre sie sofort wieder ins Auto gesprungen, doch der Alte lächelte sie warmherzig an.
    »Was kann ich für Sie tun, Mademoiselle?«
    Zwei Fragen , dachte sie. Und dann nichts wie weg .
    »Sind Sie Jean-Pierre Toinin?«

E in Akku-Bohrschrauber DS 14DL.
Zwölf unbehandelte Eichenbretter, 160 Millimeter breit, 2 Meter lang.
    Zweihundert selbstbohrende Schrauben TF Philips 4.2 × 38.
    Eine digitale Videokamera Handycam.
    Ein Stativ, 143 Zentimeter, 3500 Gramm.
    Sechs SD-Speicherkarten, 32 GB.
    Eine Projektionslampe.
    Eine Gymnastik-Bodenmatte aus Schaumstoff.
    Ein Gänsedaunen-Deckbett 220 × 240.
    Eine Augenmaske.
    Kubiela legte seine Einkäufe auf den Fußboden seines Zimmers. Er hatte alles im Einkaufszentrum Bercy 2 unweit seines Unterschlupfs gekauft. Die Waffen seines Gegenangriffs.
    Lange hatte er nachgedacht. Wenn der Andere wirklich in seinem Innern existierte, gab es nur einen Zeitpunkt, zu dem er tätig werden konnte: während er schlief. Sobald der helle Zwilling einschlief, wurde der dunkle Zwilling aktiv.
    Er machte sich an die Arbeit. Zunächst verrammelte er die Tür mit Brettern und Schrauben. Kreischend fraß sich der Bohrer ins Holz. Staub und Späne flogen herum.
    Kubielas Plan war ganz einfach. Er würde sich in einem vollständig abgeschlossenen Raum schlafen legen und sich dabei von einer laufenden Kamera beobachten lassen. Das Tier wäre gefangen, und nichts Schlimmes konnte passieren. Beim Aufwachen würde Kubiela dann zum ersten Mal das Gesicht des Anderen im Display der Videokamera sehen; das Gesicht des bösartigen Zwillings, der bereits im Mutterleib Besitz von ihm ergriffen hatte und ihn seither wie ein Krebsgeschwür auffraß.
    Weiter ging es mit den Fenstern. Bretter, Schrauben, Sägespäne. Das Zimmer wurde zur Isolationszelle, zur Büchse der Pandora, die nicht geöffnet werden konnte.
    Kubiela zweifelte nicht mehr an seiner Schuld. Die Fakten waren zu klaren Beweisen geworden. In der Grube des Minotaurus hatte man seine Fingerabdrücke gefunden. Er war an den Tatorten der Morde an Ikarus und Uranus gewesen. Wie viel Mühe hatte er sich gegeben, die Beweise zu entkräften! Er hatte Indizien umgedeutet, Zeichen missachtet und seine Schuld standhaft geleugnet. Aber jetzt würde er die Maske ablegen. Er selbst war der Täter. Der mythologische Mörder.
    Er nahm das zweite Fenster in Angriff. Noch nie hatte er sich so stark gefühlt. Der Andere wartete ab, bis er schlief, um zu handeln und zu morden. Doch er würde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er erinnerte sich einer Sage aus der griechischen Mythologie. Thanatos, der Gott des Todes, hatte einen Zwillingsbruder: Hypnos, den Gott des Schlafes. Diese Anlehnung an die Antike passte haargenau zu seiner Situation.
    Er schaltete den Bohrschrauber aus und begutachtete sein Werk im Schein der nackten Birne. Das Zimmer hatte keinen Ausgang mehr. Er war eingemauert. Gefangen. Zusammen mit dem Anderen. Im Lichtschein wirkte das mit Sägemehl und Gips bestäubte Zimmer strahlend weiß. Kubiela wusste, dass auch sein Gesicht so aussah. Weiß wie Kokain. Bei jedem Schritt hinterließ er einen Abdruck, als liefe er über frischen Schnee.
    Kubiela räumte das Werkzeug beiseite und widmete sich der Videokamera. Er schloss das Gerät an, stellte das Stativ auf und wartete, bis die Kamera vollständig

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