Der Ursprung des Bösen
war dafür bekannt, nutzlos gewordene Gefangene dadurch zu eliminieren, dass er ihnen eine lebende Schlange in den Rachen drückte. Andere Zeugen, meist Militärs, berichteten, dass Chatelet als junger Gefolgsmann von General Aussaresses während seiner Zeit in Argentinien viel für die Ausbildung der Truppenverbände getan habe.
Anaïs hatte sich die Sendung bei einer Freundin angeschaut. Sie war wie vor den Kopf gestoßen. An jenem Abend hatte sie ihre Stimme verloren. Während der folgenden Tage erschien eine wahre Flut von Artikeln in der Lokalpresse. Angesichts der Angriffe hatte ihr Vater sich in Schweigen gehüllt und in den Schoß der Kirche geflüchtet. Er war zeitlebens praktizierender Katholik gewesen. Tief schockiert hatte Anaïs ihre Koffer gepackt. Sie war einundzwanzig Jahre alt und verfügte über das Erbe ihrer Mutter – die Zinsen des Kapitals aus dem Verkauf von Ländereien in Chile.
Sie hatte eine Zweizimmerwohnung in der Rue Fondaudège gemietet, einer Geschäftsstraße mitten in der Stadt, und ihren Vater nie mehr wiedergesehen. Immer wieder musste sie an die Aussagen der Zeugen denken und wie sie den Lahmen beschrieben hatten – seine Worte, seine Bewegungen, seine Hände.
Die Hände, die mit der picana electrica zuschlugen. Die lebendiges Fleisch zerschnitten, verletzt und gequält hatten. Mit diesen Händen hatte ihr Vater sie als Baby gewaschen, sie als Kind zur Schule geführt und sie vor allen Gefahren geschützt.
Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie es geahnt hatte. So als hätte ihre Mutter aus dem Kerker ihrer geistigen Umnachtung heraus ihrem Innern das stumme Geheimnis verraten, dass sie mit einem Teufel verheiratet war. Und dass Anaïs von diesem Teufel abstammte. Ihr Blut war verflucht.
Nur ganz allmählich kehrte Anaïs’ Stimme zurück, und mit ihr ein einigermaßen normales Leben. Sie hatte Jura studiert, ihren Abschluss gemacht und war anschließend auf die Polizeischule gegangen. Nach der Prüfung hatte sie um einen Monat Urlaub gebeten und war nach Chile gereist. Sie sprach fließend Spanisch. Auch das lag ihr ihm Blut. Lange hatte sie nicht gebraucht, um die Spuren ihres Vaters zu finden. Die Schlange war in Santiago nur allzu gut bekannt. Innerhalb eines Monats schloss sie ihre Ermittlungen ab. Sie besaß so viele Beweisstücke, Zeugenaussagen und Fotos, dass es ihr möglich gewesen wäre, ihren Vater von Frankreich an Chile ausliefern zu lassen. Oder zumindest eine Anklage von Exilchilenen in Frankreich zuzulassen.
Aber dann hatte sie doch keinen Kontakt zu Richtern, Anwälten oder Klägern aufgenommen. Sie war nach Bordeaux zurückgekehrt, hatte ein Bankschließfach eröffnet und ihre Dokumente dort deponiert. Als sie die Metalltür schloss, wurde ihr die Ironie der Situation erst völlig klar: Dies war ihre erste Ermittlung in einem Verbrechen gewesen, und mit ihr hatte sie die Feuertaufe zur Kriminalbeamtin bestanden. Aber gleichzeitig hatte sie alles verloren – ihre Kindheit, ihre Herkunft, ihre Identität. Ihre Zukunft lag so leer wie ein unbeschriebenes Blatt vor ihr.
Anaïs rappelte sich auf. Sie hatte zwischen den Rebstöcken gelegen. Die Krise war vorüber, und wie jedes Mal kam sie zum gleichen Schluss: Sie musste unbedingt einen Mann finden. Genau das war es, was sie am nötigsten brauchte. Einen Mann, in dessen Armen ihre Erinnerungen, ihre Verletzungen und ihre Ängste kein Gewicht mehr hatten. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, klopfte sich den Staub von den Beinen und wanderte langsam den Weinberg hinauf. Einen Mann, den sie lieben konnte . Dabei kamen ihr weder der verführerische Araber von der Spurensicherung noch die Zombies aus dem Internet in den Sinn.
Sie dachte an den Psychiater. An den leidenschaftlichen Intellektuellen in seiner Bibliothek aus poliertem Holz.
Gerne hätte sie sich ihren Träumen hingegeben, doch bei der Erinnerung an Freire kehrten die Gedanken an den Mord zurück. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Keine Nachrichten. Gut, dann würde sie jetzt ein paar Stunden schlafen und gleich morgen früh wieder loslegen. Der Countdown lief.
Sie ging zu ihrem Wagen zurück. Kalt war ihr jetzt nicht mehr, nur ihre Augen brannten noch von den Tränen. Und tief im Hals spürte sie den Geschmack von Meerwasser.
Als sie die Wagentür öffnete, klingelte ihr Handy dann doch noch.
»Ja?«
»Hier ist Zak.«
»Wo um alles in der Welt warst du?«
»Im Süden. Ich habe deinen Stier gefunden.«
S ind Sie ganz
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