Der Ursprung des Bösen
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Jeden Sonntag fragte sie sich, warum sie dem Club beigetreten war und warum sie sich geradezu unwiderstehlich von diesen schrecklichen Abenden angezogen fühlte. Wäre es nicht netter gewesen, sich etwas Leckeres zu essen zu machen und eine der Fernsehserien anzuschauen, für die sie schwärmte? Vielleicht hätte sie sich auch noch einmal mit der Symbolik des Mythos vom Minotaurus oder den Drogenschwerpunkten in Europa beschäftigen können.
Aber diese Fragen hatte sie sich gar nicht erst gestellt. Wie jeden Sonntag war sie um acht Uhr zu dem Weinberg gefahren, der das Thema des Abends darstellte. Ermittlungstechnisch war der Tag ein Schuss in den Ofen gewesen. Jaffar hatte sich bei den Obdachlosen umgesehen – ohne Erfolg. Le Coz versuchte einen möglichst ausführlichen Lebenslauf von Philippe Duruy auf die Beine zu stellen, doch an einem Sonntag war es fast unmöglich, an Fakten zu kommen. Conante war inzwischen mit den Videos vom Bahnhof durch, ohne allerdings auch nur den Ansatz einer Spur des Jungen zu finden. Nun überprüfte er die Überwachungsbänder der Stadtgebiete, wo sich besonders viele Aussteiger herumtrieben. Von Zak hatte Anaïs bisher noch nichts gehört. Auf seiner Suche nach dem Stierzüchter schien er wie vom Erdboden verschluckt.
Sie selbst hatte sich mit der Meldestelle in Verbindung gesetzt und war an eine wahre Koryphäe des Archivwesens geraten. Der Mann kannte jede Menge Verbrechen, doch ein mythologischer Mord war auch ihm nicht geläufig. Er konnte sich nicht erinnern, je von einer derart makabren Inszenierung gehört zu haben – weder in Frankreich noch im Rest Europas. Nach einer kurzen Telefonkonferenz mit ihren Jungs hatte sie ihnen für den Rest des Abends freigegeben. An nächsten Morgen würden sie sich gleich bei Dienstbeginn zusammensetzen.
Als sie die Mordkommission verließ, war ihr Kriminaloberrat Deversat über den Weg gelaufen. Er hatte sie beiseitegenommen und Klartext mit ihr geredet. Die Medien sollten zunächst kein Sterbenswörtchen erfahren. Die Staatsanwaltschaft würde ihnen noch sechs Tage freie Hand lassen, sodass sie die Ermittlungen nach eigenem Gutdünken führen konnte. Trotzdem war erhöhte Wachsamkeit geboten, denn sie stand im Fadenkreuz der Politik. Anaïs bedankte sich für sein Vertrauen und ging scheinbar gelassen ihrer Wege. In Wahrheit jedoch machte sich der Stress schon jetzt in ihrer Magengegend bemerkbar.
»Im November wird der Wein in Fässer abgefüllt, wo der malolaktische Säureabbau stattfindet. Der Wein bleibt etwa zwölf bis dreizehn Monate im Fass …«
Erneut lief Anaïs ein Schauder über den Körper. Sie dachte an ihre Arme und die Narben darauf. Immer hatte sie den Eindruck, alle Leute könnten sie sehen – als wären sie nackt, zur Schau gestellt und eiskalt. Kein noch so warmes Gewebe wurde dieser Kälte Herr. Einer Kälte, die aus ihrem Innern kam.
»Uns ist es wichtig, unsere Weine nicht zu holzbetont auszubauen, sondern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Fruchtigkeit, Säure und Alkoholgehalt zu wahren. Unsere Produkte sind rund und angenehm und zeichnen sich durch eine gewisse Frische aus …«
Anaïs folgte dem Vortrag nicht mehr. Sie hatte sich auf dem Grund ihres Körpers vergraben. In der Tiefe ihres Leidens. Ohne sich dessen bewusst zu sein, presste sie die Arme an den Körper und dachte schon wieder an das Schlimmste. Ich schaffe es nicht … Ihre Beine zitterten, und ihr Körper schlotterte, gleichzeitig jedoch fühlte sie sich wie versteinert. Während ihrer Panikattacken konnte es ihr passieren, dass sie irgendwo zusammenbrach und sich stundenlang nicht mehr rührte. Sie war dann wie gelähmt, als würde sie von einem Schraubstock in Eiswasser festgehalten.
»Wir werden jetzt einen Wein aus dem Jahr 2005 verkosten; hier im Médoc ein herausragender Jahrgang. Natürlich erhalten wir heute nur einen ersten Eindruck davon, wie sich dieser Wein in den nächsten Jahren entwickeln wird, denn eigentlich ist er noch zu jung.«
Die Gruppe drängte sich in die Kellerei. An der Treppe zögerte Anaïs kurz, beschloss aber dann, den anderen zu folgen. Langsam stieg sie die Stufen hinunter. Es roch nach Schimmel und Fermentation. Anaïs liebte den Wein, obwohl er sie immer an ihren Vater erinnerte. Er war es gewesen, der sie alles über den Weinanbau gelehrt und ihr beigebracht hatte, wie man verkostet, genießt und einlagert. Als sie die Brücken hinter sich abbrach, hätte sie eigentlich auf alle Dinge
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