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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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verzichten müssen, die sie in irgendeiner Weise an ihn erinnerten. Doch in diesem Fall hatte sie sich geweigert. Er hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, aber diesen Genuss wollte sie sich nicht auch noch wegnehmen lassen.
    »Lassen Sie es mich noch einmal betonen: Eigentlich ist dieser Wein noch zu jung zur Verkostung …«
    Plötzlich drehte sich Anaïs auf dem Absatz um und stürmte nach oben. Mehrmals stolperte sie auf der Treppe. Immer noch rieb sie sich die Arme. Im Laufschritt durchquerte sie den Gärraum. Hinaus an die frische Luft. Durchatmen. Schreien. In den runden Edelstahloberflächen der Tanks spiegelte sich ihr verzerrtes, verformtes Ebenbild. Erinnerungen stiegen auf – eine Flut von Abscheulichkeiten, die gleich in ihrem Kopf explodieren würden. Wie jedes Mal.
    Sie musste hinaus in den Hof, in die Nacht, unter freien Himmel.
    Der Platz vor dem Schloss war menschenleer. Anaïs wurde langsamer. Sie ließ die Lagerhäuser hinter sich und ging auf die Weinberge zu. Bläulich lag die Landschaft im Mondlicht. Der Boden sah aus wie Asche, in die sich die Rebstöcke hineinkrallten.
    DER WEIN …
    DER VATER …
    Von ihren Lippen stieg ein Nebelhauch auf, der sich mit dem Dunst des Bodens mischte. Die Hänge senkten sich zur Mündung der Gironde hin. Anaïs lief bergab. Sie spürte, wie die Kieselsteine unter ihren Stiefeln wegrollten. Triebe und Spalierstangen schienen nach ihr zu greifen, als wollten sie ihr Böses.
    DER WEIN …
    DER VATER …
    Sie tauchte zwischen die Rebstöcke ein und ließ endlich ihren Erinnerungen freien Lauf.
    Ihr Vater. Bis zum Ende ihrer Jugendzeit hatte es nie einen anderen Mann für sie gegeben, doch das war wohl normal bei einem Kind, das seine Mutter mit acht Jahren verloren hatte. Weniger normal war, dass ihr Vater sich nur mit einem einzigen weiblichen Wesen umgab – mit ihr. Anaïs und ihr Vater waren das perfekte Paar. Auf platonische Art miteinander verwachsen.
    Er war ein Mustervater gewesen. Er hatte mit ihr Hausaufgaben gemacht, hatte sie nach dem Reiten vom Gestüt abgeholt und mit ihr die Ferien in Soulac-sur-Mer verbracht. Er hatte ihr von ihrer chilenischen Mutter erzählt, die in einer Heilanstalt verwelkt war wie eine Blume, die in einem Gewächshaus erstickt. Er war immer für sie da. Und immer perfekt.
    Nur dann und wann verspürte Anaïs ein unerklärliches Unbehagen. Manchmal, wenn ihr Vater in der Nähe war, wurde sie von Angstgefühlen überwältigt und von Panikattacken geschüttelt, als ahnte ihr Körper etwas, das ihr Bewusstsein nicht wahrnahm. Aber was?
    Am 22. Mai 2002 erhielt sie schließlich die Antwort.
    Sie stand auf der Titelseite der Zeitung Sud-Ouest .
    Die Überschrift des Artikels lautete Der Folterer in den Weinbergen und war merkwürdigerweise von einem Fernsehjournalisten geschrieben. Der Mann zeichnete verantwortlich für einen für Arte gedrehten Dokumentarfilm, der sich mit der Rolle französischer Militärs in den südamerikanischen Diktaturen der 1970er Jahre befasste. Zu den Ausbildern gehörten sowohl Rechtsaktivisten als auch Mitglieder der OAS, der französischen Untergrundbewegung im Algerienkrieg, und ehemalige Geheimagenten. Aber auch andere Franzosen hatten unmittelbar an der Unterdrückung teilgehabt. So war es zum Beispiel in Chile ein renommierter Önologe gewesen, der bei den Aktivitäten der Todesschwadronen eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte. Er war nie untergetaucht, hieß Jean-Claude Chatelet und stammte aus dem Aquitaine. Tagsüber befasste er sich mit Wein, bei Nacht mit Blut.
    Nachdem der Artikel erschienen war, stand das Telefon zu Hause nicht mehr still. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. In der Universität tuschelte man hinter Anaïs’ Rücken, auf der Straße blickte man ihr nach. Nachdem der Film auf Arte ausgestrahlt worden war, kam die gesamte Wahrheit an den Tag. Die Dokumentation war ein Porträt ihres Vaters, jünger und weniger schön, als sie ihn kannte. Eine Schlüsselfigur der Folterpraxis in Santiago . Zeugen erinnerten sich an die drahtige Gestalt, das damals bereits ergraute Haar, die hellen Augen – und an sein charakteristisches Hinken, das ihn unverwechselbar machte; er hatte die Behinderung einem Reitunfall als Kind zu verdanken.
    Die Gefolterten sprachen von seiner sanften Stimme und seinen entsetzlichen Methoden: Stromschläge, Verstümmelungen, Enukleationen, Injektionen mit Kampfer. Von seinen Opfern wurde er nur »der Lahme« ( El Cojo ) genannt. Er

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