Der Ursprung des Bösen
weitersprach.
»Ich habe da noch etwas für Sie. Nachdem ich den Bericht abgeschickt hatte, sind noch ein paar Resultate gekommen. Sie werden es nicht glauben.«
»Nämlich?«
»Wir haben in der Grube eine neuartige Technik ausprobiert, mit der man auch auf völlig durchnässten Oberflächen Fingerabdrücke sichtbar machen kann.«
»Und welche gefunden?«
»Allerdings. Und zwar nicht vom Opfer.«
»Haben Sie sie mit den Abdrücken des Cowboys aus der Klinik verglichen?«
»Damit bin ich gerade fertig geworden. Seine sind es auch nicht. Es muss noch jemand anders in der Grube gewesen sein.«
Anaïs verspürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Jemand anders ? Hatten sie vielleicht die Fingerabdrücke des Mörders gefunden?
»Soll ich sie Ihnen schicken?«, fragte Dimoun.
»Wieso ist das nicht schon längst passiert?«, knurrte sie und legte auf, ohne sich zu verabschieden. Längst war sie meilenweit von jedem Flirtversuch entfernt. Jetzt zählten nur noch die Ermittlungen.
Ehe sie in die Rue Ducau fuhr, rief sie Zakraoui an.
»Irgendetwas Neues, Zak?«
»Nein. Ich kümmere mich immer noch um die Dealer. Einige kannten Duruy, aber nicht ein einziger hat von derart reinem Stoff gehört. Und wie ist es bei dir gelaufen? Du warst doch bei diesem Stierzüchter.«
»Das erzähle ich dir später. Aber du könntest mir einen Gefallen tun. Fahre in der Klinik Pierre-Janet vorbei und finde heraus, ob der Mann noch dort ist, den man am Bahnhof Saint-Jean aufgegriffen hat. Der Typ ohne Gedächtnis. Und informiere Mathias Freire, den Psychiater, dass ich ihn heute Nachmittag noch einmal vernehmen werde.«
»Wen – den Psychiater oder den Patienten?«
»Beide.«
K omisch, wieder nach Hause zu fahren.«
Sie befanden sich auf der N 10 auf dem Weg ins Baskenland. In Bordeaux waren sie ein wenig früher als vorgesehen aufgebrochen. Freire hatte Bonfils im Fond seines Wagens untergebracht. Der Riese saß mitten auf der Rückbank und klammerte sich mit beiden Händen an die Vordersitze. Wie ein Kind, dachte Freire.
Innerhalb weniger Stunden hatte der Mann sich völlig verändert. Man konnte fast dabei zusehen, wie er wieder zum Fischer wurde und seine verlorene Identität zurückkehrte. Seine Psyche schien aus einem weichen Material zu sein, das nach und nach wieder seine ursprüngliche Form annahm.
»Was hat Sylvie gesagt?«
»Sie freut sich auf dich. Sie hatte sich ziemliche Sorgen gemacht.«
Bonfils schüttelte heftig den Kopf. Sein Cowboyhut beeinträchtigte die Sicht durch den Rückspiegel, doch Freire konzentrierte sich auf die Außenspiegel.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, Doc. Was ist bloß mit mir passiert?«
Freire antwortete nicht. Leichter Sprühregen verschmierte die Windschutzscheibe. Die Kiefern rechts und links der Straße sausten vorbei. Freire hasste dieses endlose Waldgebiet mit seinen dünnen, geraden Bäumen, die in den Sand gepflanzt waren. Auch den Ozean dahinter mit seinen Dünen und seinen Stränden mochte er nicht. Es war eine Landschaft scheinbar ohne Grenzen, die ihm Angst einjagte.
Ohne dass der Riese es bemerkte, schaltete er sein Diktafon ein.
»Erzähl mir von deiner Familie, Patrick.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
Vor der Abreise hatte Freire seinen Patienten schon einmal befragt und ein bruchstückhaftes Gesamtbild erhalten. Bonfils war 54 Jahre alt und arbeitete seit sechs Jahren als Fischer in Guéthary. Davor hatte er von Gelegenheitsarbeiten irgendwo in Südfrankreich gelebt. Zunächst im Osten, später im Westen. Er wurde hauptsächlich auf Baustellen beschäftigt, was ihn immerhin so stark beeinflusste, dass er diese Erfahrungen unbewusst in seinen Entwürfen für eine neue Identität benutzt hatte. Insgesamt hatte er ein unstetes Leben an der Grenze zur Landstreicherei geführt, war aber immer irgendwie zurechtgekommen.
»Hast du Geschwister?«
Der Riese rutschte auf dem Rücksitz herum. Freire spürte, wie die Karosserie bei jeder seiner Bewegungen ins Schwanken geriet.
»Wir waren zu Hause fünf Kinder«, sagte der Cowboy schließlich. »Drei Jungen und zwei Mädchen.«
»Hast du noch Kontakt zu ihnen?«
»Nein. Unsere Familie stammt aus Toulouse, und meine Geschwister wohnen immer noch dort.«
»Und deine Eltern?«
»Sind schon lange tot.«
»Hast du deine Kindheit in Toulouse verbracht?«
»Nicht direkt, sondern in einem Vorort namens Gheren. Wir wohnten zu siebt in einer Zweizimmerwohnung.«
Seine Erinnerungen kamen klar und präzise
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