Der Ursprung des Bösen
aus. Hastig änderte er seinen Plan. Ein Schuldiger kennt nur einen möglichen Ausweg: die Flucht.
Er faltete das Blatt, steckte es in die Tasche, schob die Patrone in den Füller zurück, verschraubte ihn und legte ihn wieder in die Schublade. Die Akte ließ er, wo sie war – auf dem Schreibtisch. Nur legte er noch etwas dazu.
Er öffnete die Tür einen schmalen Spalt und spähte in den Flur hinaus. Immer noch war niemand zu sehen. Leise verließ er das Büro und ging so zwanglos wie möglich zur Treppe.
»He, Sie da!«
Mathias ging weiter.
»Hallo!«
Mathias blieb stehen, bemühte sich um einen entspannten Gesichtsausdruck und drehte sich um. Er spürte, wie ihm der Schweiß über die Brust rann. Der Schönling von vorhin kam auf ihn zu.
»Wollten Sie nicht auf Hauptkommissarin Chatelet warten?«
Freire schluckte, ehe er mit rauer Stimme hervorpresste:
»Ich habe leider keine Zeit mehr.«
»Schade. Sie hat gerade angerufen, dass sie unterwegs ist.«
»Ich kann aber nicht mehr warten. So wichtig war es nun auch wieder nicht.«
Der Mann runzelte die Stirn. Sein Berufsinstinkt verriet ihm, dass sein Gegenüber Angst hatte.
»Bleiben Sie.« Sein Tonfall veränderte sich. »Sie kommt jeden Moment.«
Freire senkte den Blick. Was er sah, ließ ihn fast erstarren. Der Polizist trug eine Akte unter dem Arm, auf der die Aufschrift VICTOR JANUSZ, MARSEILLE prangte.
Ihm wurde schwarz vor Augen. Er konnte weder denken noch sprechen. Der Kommissar wies auf die an der Wand verschraubte Stuhlreihe.
»Setzen Sie sich, guter Mann. Sie sind so weiß wie ein Leintuch.«
»Le Coz, komm mal her!«
Die Stimme drang aus einem der Büros.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, sagte der Schönling, drehte sich um und ging in das Büro des Kollegen. Freire stand noch immer im Flur. Das Blut pulsierte in seinen Schläfen. Seine Beine schlotterten. Es wäre so einfach gewesen, sich zu setzen und darauf zu warten, dass man ihn festnahm.
Stattdessen hastete er schweigend den Flur entlang und fand ein offenes Treppenhaus, das ins Erdgeschoss hinunterführte.
Als er die Eingangshalle erreichte, konnte er es kaum glauben. Er durchquerte den weiten Raum. Das Stimmengewirr ringsum klang wie das Pochen seines eigenen Blutes. Die Tür zum Ausgang schien zu pulsieren.
Nur noch wenige Meter bis zur Freiheit!
Immer noch erwartete er beinahe einen Angriff von hinten.
Er kam jedoch von vorn.
Auf der anderen Seite der doppelten Glastür stieg Anaïs aus einem Auto. Sekundenbruchteile später war Freire in einer nahegelegenen Toilette verschwunden, betrat eine Kabine und verriegelte die Tür.
Nach etwa einer Minute verließ er das Gebäude und ging die regenglänzende Straße entlang.
Allein.
Verloren.
Aber frei.
S cheiße«, fluchte Anaïs mit zusammengebissenen Zähnen.
Le Coz hatte ihr angekündigt, dass Mathias Freire auf sie wartete, doch der Flur war leer. Der Psychiater war verschwunden.
»Vor fünf Minuten stand er noch hier.« Der Kommissar blickte sich verwirrt um. »Ich habe ihm befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Er schien mir nicht ganz in Ordnung …«
»Lauf hinter ihm her. Finde ihn.«
Der Kommissar im feinen Zwirn reichte ihr einen Schnellhefter.
»Hier, die Akte Janusz. Sie ist heute mit dem Flugzeug gekommen.«
Anaïs nahm den Ordner entgegen, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
»Finde Freire«, wiederholte sie. »Ich muss ihn unbedingt sprechen.«
Le Coz rannte zur Treppe. Anaïs biss sich auf die Lippe. »Scheiße«, schimpfte sie erneut. Sie konnte es nicht fassen, dass sie ihn verfehlt hatte. Warum war er gekommen? Vielleicht als Vorwand, um sie wiederzusehen? Immer mit der Ruhe, altes Mädchen .
Sie war unglaublich schlecht gelaunt. Weder Conante, der die Überwachungsvideos geprüft hatte, noch Zakraoui mit seinen Dealerkontakten oder Jaffar, der die Spur des Hundes und der Kleider des Jungen verfolgte, hatten auch nur das Mindeste gefunden. Und der Countdown tickte noch immer.
Sie betrat ihr Büro und schloss die Tür unsanft mit dem Fuß. Wehe, die Akte Janusz hielt nicht, was sie versprach! Noch im Stehen und ohne das Licht anzuknipsen schlug sie den Ordner auf.
»Scheiße«, entfuhr es ihr erneut. Dieses Mal jedoch in einem ganz anderen Tonfall.
Der ersten Seite der Akte war ein Erkennungsdienstfoto des Obdachlosen angeheftet. Es zeigte Mathias Freire. Er sah etwas ungepflegter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, doch er war es. Ohne jeden Zweifel. Mit
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