Der Ursprung des Bösen
unfreundlichem Blick hielt er die Tafel mit seinen Daten und schien drauf und dran zu sein, den Fotografen anzuspucken. Anaïs tastete nach einem Stuhl.
Sie blätterte um und begann zu lesen. Nach einer Schlägerei mit einer Bande von Aussteigern war er am 22. Dezember 2009 festgenommen worden. Seine Aussage war uninteressant. Angeblich war er provoziert worden und hatte sich nur verteidigt. Der Mann besaß weder Papiere noch konnte er sich seiner persönlichen Daten erinnern.
Janusz lebte am äußersten Rand der Gesellschaft und schien ständig betrunken zu sein. Wie war es möglich, dass ein solcher Mensch eine leitende Funktion in der psychiatrischen Klinik Pierre-Janet ausübte? Konnte es sein, dass er Philippe Duruy ermordet hatte?
Plötzlich hob Anaïs den Kopf. Sie spürte etwas im Raum. Gespannt ließ sie ihren Blick über die Dokumente und Ordner auf ihrem Schreibtisch gleiten. Alles wirkte wie immer, und doch strahlte jede Einzelheit die Gegenwart eines Fremden aus.
Jemand war in diesem Büro gewesen und hatte es durchsucht.
Aber wer? Mathias Freire?
Auf der anderen Seite des Schreibtischs lag der Ordner der laufenden Ermittlung. Sie stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Der Ordner war auf der Seite geöffnet, wo sich die Fingerabdrücke befanden, die von der Spurensicherung am Leichenfundort sichergestellt worden waren.
Daneben lag ein Blatt mit der Unterschrift von Mathias Freire. Darauf stand:
ICH BIN KEIN MÖRDER
D er Wettlauf gegen die Zeit hatte begonnen. Freire war sicher, dass Anaïs, nachdem sie in der Akte Victor Janusz sein Konterfei entdeckt hatte, sofort einen Wagen zur Klinik und zu seinem Haus schicken würde. Wahrscheinlich hatte sie auch veranlasst, dass man den Bahnhof Saint-Jean, den Flughafen, die Autobahnen und die Busbahnhöfe überwachte; vielleicht sogar die Nationalstraßen, die aus der Stadt hinausführten. In den Straßen von Bordeaux patrouillierte Polizei. Man war hinter ihm her.
»Wir sind da«, sagte er zu dem Taxifahrer. »Warten Sie bitte auf mich.«
Freire hatte sich einige Häuser entfernt von seiner tatsächlichen Adresse absetzen lassen.
»In drei Minuten bin ich wieder da.«
Er lief zu seinem Haus, öffnete die Tür, schnappte sich eine Reisetasche und stopfte hinein, was ihm gerade in die Finger kam. Außer Kleidungsstücken packte er auch seine Diplome und Dokumente ein.
Plötzlich hörte er eine Polizeisirene. Der Ton kam näher. Freire zog den Reißverschluss der Tasche zu, verließ das Haus wie ein Geist und rannte zu dem wartenden Taxi. Der Schmerz hinter seinem Auge pulsierte heftig. Ihm war schlecht. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer.
»Wo geht es hin?«
»Zum Flughafen Bordeaux-Mérignac, internationale Abflüge.«
Polizeiautos mit heulenden Sirenen kreuzten ihren Weg. Freire konnte es kaum fassen, dass die ganze Aufregung ihm galt. Er dachte weder an die Polizisten noch an die Männer in Schwarz. Er dachte nur an sich selbst. Wer war er wirklich? Es gab Anzeichen, die dafür sprachen, dass sein Aufenthalt in Bordeaux auch nur eine Fälschung war. Sein häufiges Unbehagen in der Klinik. Die Leere, die er abends zu Hause verspürte. Seine Schwierigkeiten, wenn er über die Vergangenheit nachdachte.
Echte Erinnerungen hatte er nicht. Manchmal entsann er sich spontan irgendwelcher Dinge, wusste aber jetzt, dass auch diese nur Fiktion waren – geduldige Steine einer undurchsichtigen Mauer, die zwischen seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart stand.
Nur ein einziges Bild schien ihm realistisch zu sein: die Leiche der erhängten Anne-Marie Straub, die über seinem Kopf pendelte. Namen und Daten waren vielleicht erfunden, aber die Fakten entsprachen harten Tatsachen. Aber war er damals auch schon Psychiater gewesen? Oder vielleicht ein Patient der Klinik? War es dieser Selbstmord gewesen, der seine erste dissoziative Flucht ausgelöst hatte?
»Wir sind da.«
Freire bezahlte und stürmte in die Abflughalle. Er schwitzte am ganzen Körper. An einem Geldautomaten holte er so viel Geld, wie möglich war. Zweitausend Euro – seine monatliche Obergrenze. Während er auf die Scheine wartete, warf er unruhige Blicke nach rechts und links. Sicherheitskameras beobachteten ihn. Umso besser.
Er wollte gesehen werden, damit man glaubte, er würde mit dem Flugzeug ausreisen.
In einem toten Winkel kramte er sein Handy aus der Tasche. Er löschte alle Nummern im Speicher, dann rief er die Zeitansage an. Ohne aufzulegen warf er das Gerät in
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