Der Ursprung des Bösen
Stier enthaupten, sondern auch reines Heroin finden, Philippe Duruy ansprechen und ihn in eine Falle locken müssen. Ganz zu schweigen davon, dass er die Leiche und den Kopf in die Grube hätte transportieren müssen. Freire mochte vielleicht unter einer Störung leiden, bei der die rechte Hand manchmal nicht wusste, was die linke tat, aber bestimmt nicht unter fortgesetzten Bewusstseinskrisen, denen jedes Mal eine vollständige Amnesie folgte und die allein es ihm ermöglicht hätten, ohne sein eigenes Wissen ein solches Verbrechen zu organisieren. Der Mord an Philippe Duruy ging auf das Konto eines anderen. Trotzdem bewiesen seine Fingerabdrücke, dass auch er sich in dieser Grube aufgehalten hatte. Aber wann? Hatte er den Mörder überrascht? Oder war er mit Patrick Bonfils zusammen gewesen?
Sein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Freire deponierte Mütze und Weste auf dem Karren und stieg ein. Kaum dass er saß, begann er wieder zu grübeln. Bis Agen wollte er Ordnung in die Fragen bringen, die ihn beschäftigten. Zehn Minuten nach Abfahrt des Zuges jedoch schlief er tief und fest.
M athias Freire blieb verschwunden.
Le Coz und Zakraoui waren sofort zu seinem Haus gefahren, Conante und Jaffar hatten sich in der Klinik umgesehen. Aber weder da noch dort fand sich eine Spur von ihm. Anaïs hatte die negativen Ergebnisse gar nicht erst abgewartet, sondern sofort die Überwachung aller Flughäfen, Bahnhöfe, Busbahnhöfe und Ausfallstraßen angeordnet.
Das Bild von Janusz/Freire war an sämtliche Polizeistationen in ganz Südfrankreich übermittelt worden. Auch die Zeitungen der Region hatten es erhalten, um es in der nächstmöglichen Ausgabe zu veröffentlichen. Anaïs hatte mit den lokalen Radiosendern telefoniert und sie gebeten, eine Suchmeldung zu veröffentlichen. Eine kostenlose Hotline wurde ebenso eingerichtet wie eine Internetseite. Die ganz große Fahndung eben.
Trotzdem gab es da die kleine innere Stimme, die ihr zuraunte, dass ihr Vorgehen nicht richtig war. Sie warf Mathias Freire der Öffentlichkeit, den Medien und seinen Vorgesetzten zum Fraß vor, obwohl seine Schuld keineswegs bewiesen war. Anaïs’ eigener Vorgesetzter hatte angerufen und von ihr verlangt, ihn noch vor Feierabend aufzutreiben. Auch Véronique Roy hatte sich gemeldet und ihren Kommentar abgegeben. Der Präfekt wollte von Anaïs wissen, ob der Mörder schon identifiziert war, und die Journalisten fanden es spannend, dass dieser Mörder sein Heil in der Flucht gesucht hatte. All das diente ihrer eigenen Karriere, ihrem Ansehen und ihrem Ruf. Aber niemand hatte ihr die einzige Frage gestellt, die wirklich zählte: Hatte Janusz den Minotaurus getötet?
Die Polizei verfolgte einen Flüchtigen – nicht den Mörder von Philippe Duruy. Denn das war nicht unbedingt das Gleiche. Bis zum Beweis des Gegenteils galt Freire alias Janusz lediglich als Zeuge. Es war viel zu früh, ihn als den Schuldigen darzustellen.
Aber in Wahrheit war es schon zu spät.
Indem er es vorzog zu fliehen, hatte der Psychiater sein Schicksal besiegelt. Lief man denn davon, wenn man nichts zu befürchten hatte? Angesichts der Berichte und Ergebnisse, die Anaïs im Minutentakt auf den Schreibtisch flatterten, wurde ihre Wut auf Mathias immer größer. Er hätte ihr vertrauen sollen. Er hätte auf sie warten sollen. Sie hätte ihn beschützt.
Sie überflog die Papiere, um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Zunächst hatte man geglaubt, dass Mathias Freire mit dem Auto geflohen war. Er besaß einen dieselbetriebenen Kombi der Marke Volvo 960 mit dem Kennzeichen 916 AWX 33. Das Fahrzeug stand weder vor seiner Haustür noch vor der Klinik. Dann jedoch hatte man den Flüchtigen auf dem Flughafen Bordeaux-Mérignac lokalisiert. An einem Geldautomaten hatte er zweitausend Euro abgehoben.
Die Spur verlor sich jedoch schnell. Auch in der Umgebung des Flughafens wurde Freires Auto nicht gefunden, und in den Passagierlisten des Nachmittags tauchte weder ein Mathias Freire noch ein Victor Janusz auf. Anaïs ahnte, dass der Flüchtige sie bewusst auf eine falsche Fährte gelockt hatte, um Zeit zu gewinnen. Eine Stunde später fand man schließlich Freires Handy und seinen Regenmantel in einem Mülleimer des Flughafengebäudes.
Seither hatten sie nichts mehr von ihm gehört.
Natürlich hatten sich – wie immer – Augenzeugen gemeldet, doch deren Hinweise erwiesen sich – wie immer – als zusammenhanglos, erfunden oder widersprüchlich. Der Volvo war an keiner
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