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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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eines fehlte.
    Er öffnete seinen Hosenschlitz und pinkelte sich auf Beine und Schuhe.
    »Was soll das denn?«
    Hastig zog Freire den Reißverschluss zu und hob den Kopf. Eine Frau lehnte sich zwischen zum Trocknen aufgehängten Bettlaken über die Brüstung und blitzte ihn wütend an.
    »Das können Sie bei sich zu Hause machen, Sie Ferkel!«
    Freire sah zu, dass er verschwand. Dabei presste er seinen Weinbehälter an die Brust wie einen Schatz. Als er die Canebière wieder erreichte, war er nicht mehr Mathias Freire, sondern ein Obdachloser. Nun musste er den Psychiater Mathias Freire vergessen und nur noch wie Victor Janusz denken, der Penner auf der Flucht.
    Als Janusz würde er vielleicht seine vorhergehende Identität finden.
    Und so weiter, bis er seinen innersten Kern entdeckte.
    Seine ursprüngliche Persönlichkeit.
    Die kleinste Matrjoschka.
    Er folgte den Straßenbahnschienen. Nur langsam trockneten seine stinkenden Klamotten.
    Der Vieux-Port war nicht mehr fern.
    Sein Instinkt sagte ihm, dass er dort andere Obdachlose treffen würde. Und einer von ihnen, dessen war er sich ganz sicher, würde Victor Janusz kennen.

2. Victor Janusz

D er Vieux-Port umschließt das Hafenbecken wie ein riesiges U. Am Ende der beiden Begrenzungsdämme wachen zwei Festungen. Er erinnerte sich ihrer Namen: Fort Saint-Nicolas und Fort Saint-Jean. Die Gebäude dahinter liegen dicht beisammen und bilden eine Art Festungswall. Die Masten der in der Bucht ankernden Schiffe sahen aus wie Nadeln, die man in die Wasseroberfläche gesteckt hatte.
    Rechts unter den Arkaden gewahrte Janusz eine Gruppe Penner. Sie lagen nebeneinander aufgereiht wie Opfer einer Naturkatastrophe. Zögernd trat Janusz einen Schritt näher. Aus dieser Entfernung sahen sie aus wie unordentliche Stoffhaufen, die teilweise auf Pappkartons lagen, teilweise von schmutzigen Taschen und Beuteln umgeben waren. Sie mussten in der letzten Nacht ganz schön gefroren haben, jetzt aber begannen sie zu husten, tranken und spuckten. Die vermeintlichen Leichen bewegten sich noch.
    Janusz setzte sich neben den Ersten in der Reihe. Die Kälte des Asphalts drang ihm tief in die Knochen. Der Gestank seines Nachbarn hüllte ihn ein. Der Mann warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Janusz begriff sofort, dass er ihn nicht erkannte.
    Er stellte sein Plastikfässchen offen neben sich. In den Augen seines Nachbarn glomm ein Funken Interesse auf. Janusz erwartete, dass der Mann Annäherungsversuche machen würde, um an einen Schluck Wein zu kommen, doch stattdessen pflaumte der Kerl ihn an:
    »Hau ab, das ist mein Platz.«
    »Der Bürgersteig gehört schließlich allen.«
    »Siehst du nicht, dass ich arbeite?«
    Janusz verstand nicht sofort. Der Penner trug weder Schuhe noch Strümpfe. Er hatte ein Bein untergeschlagen und saß darauf, das andere, dessen Fuß nur zwei Zehen hatte, streckte er weit aus. Mit den beiden verbliebenen Zehen hielt er eine Keksdose aus Blech und ließ sie über den Boden scheppern, wenn Passanten vorüberkamen.
    »Bitte um eine milde Gabe für einen Bergsteiger, der seine Zehen am Mount Everest verloren hat. Bitte, nur eine kleine Münze«, flehte er. »Die Kälte hat mich zum Krüppel gemacht.«
    Die Idee war originell. Von Zeit zu Zeit klingelten wie durch ein Wunder tatsächlich kleinere Münzen in der Keksdose. Janusz stellte fest, dass sein Nachbar nicht der Einzige war, der »arbeitete«. Alle anderen bettelten ebenfalls. Einer nach dem anderen standen sie auf und gingen bis zu den Säulen der Arkaden, wo sie Leute ansprachen, die sie geflissentlich zu übersehen versuchten. Teils unterwürfig, teils feindselig, gaben sie ihren Stimmen einen entweder devoten oder aggressiven Beiklang. Demütig bedankten sie sich, obwohl alles an ihnen Hass und Verachtung ausstrahlte.
    Janusz wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Nachbarn zu. Der wilde Rauschebart des Mannes wimmelte vor Flöhen. Er trug eine verblichene Kappe. Seine Haut war wie gegerbt, gerötet und spröde vor Kälte. Violette Adern schlängelten sich unter der Oberfläche wie Bäche, die alle der gleichen Quelle entsprangen: dem Suff. Das Ganze konnte man noch nicht einmal als Gesicht bezeichnen. Es war eher eine Ansammlung zerschmetterter Knochen, aufgedunsenen Fleischs, harter Krusten und Narben.
    »Willst du ein Foto von mir?«
    Janusz hielt ihm das Plastikfässchen hin. Ohne ein Wort zu verlieren, packte der Kerl den Handgriff und öffnete den Zapfhahn mit den Zähnen, ehe er sich einen

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