Der Ursprung des Bösen
Marseille erinnern.
»Ich kenne die Stadt leider nicht«, sagte er. »Wohin muss ich gehen, wenn ich ins Stadtzentrum will?«
»Sie können den Bus oder die U-Bahn nehmen.«
»Geht es auch zu Fuß?«
»Natürlich. Steigen Sie einfach die große Treppe links hinunter. Sie landen auf dem Boulevard d’Athènes. Wenn Sie an der Canebière sind, gehen Sie die Straße einfach geradeaus hinunter, dann laufen Sie direkt auf den Vieux-Port zu.«
»Und Sie? Wo müssen Sie hin?«
»Zum Busbahnhof dort unten links.«
»Ich bringe Sie hin.«
Am Busbahnhof verabschiedete sich Freire von Mutter und Sohn. Der Morgen war eisig kalt. Freire machte sich im Laufschritt auf die Suche nach dem Weg in die Stadt, von dem die Frau gesprochen hatte. Er entdeckte eine monumentale, mehr als hundert Stufen hohe Treppe, die in die Stadt hinunterführte.
Es war gerade sieben Uhr morgens.
Freire stieg die Treppe hinab. Unter einer Laterne lümmelten sich Tippelbrüder an der Mauer, um sie herum Hunde, zerfledderte Bündel und leere Weinflaschen. Die Leute schienen sich in einer Pfütze aus Schmutz, Armut, Wein und Angst zu suhlen.
Mathias unterdrückte einen Schauder.
Er blickte seiner unmittelbaren Zukunft ins Auge.
A m Fuß der Treppe blieb er stehen. Auf der anderen Straßenseite erkannte er das mit einem Rollgitter geschützte Schaufenster eines Ladens für gebrauchte Armeebekleidung. Er überquerte die Fahrbahn und stellte fest, dass das Geschäft um 9.00 Uhr öffnete. Hier würde er finden, was er suchte. Er ging in ein Café genau gegenüber, setzte sich an einen der hinteren Tische, wo er die Straße überblicken konnte, und bestellte einen Kaffee.
Sein Magen rumorte. Er bestellte einen zweiten Kaffee und verschlang drei Croissants. Sofort wurde ihm übel. Klar, das war die Angst. Aber der gelungene Coup am Bahnhof verlieh ihm eine fieberhafte, nervöse Energie. Er bestellte einen Tee und ging zur Toilette, wo er den Brechreiz unterdrückte.
Langsam dämmerte der Tag herauf. Zunächst zeigte nur ein Teil des Himmels einen hellvioletten Perlmuttschein, dann breitete sich ein kreidiges Blau aus. Nach und nach konnte Freire die Umrisse der Rokokolaternen des Boulevards erkennen. Einzelheiten, die ihm bekannt vorkamen. Er erinnerte sich. Nein, er empfand etwas. Es lag ihm im Blut und im Körper. Ein vertrautes Kribbeln. Er hatte diese Stadt erlebt .
Endlich 9.00 Uhr.
Der Armeeladen war noch immer geschlossen. Die Empfindungen wurden klarer. Die Geräusche der Stadt, die Geschmeidigkeit des Steins, die Härte des Lichtes. Und dieses mediterrane Gefühl, das über allem lag und vom Meer und aus der Antike kam. Freire hatte weder Vergangenheit noch Gegenwart oder Zukunft. Und trotzdem fühlte er sich hier zu Hause.
Irgendwann tauchte ein Koloss von einem Mann mit Drillichjacke und Bürstenschnitt auf und öffnete das Rollgitter. Freire bezahlte und verließ das Café. Als er die Straße überquerte, bemerkte er weiter unten eine Apotheke. Da fiel ihm etwas ein. Entgegen seinen ursprünglichen Absichten ging er zunächst in die Apotheke und kaufte losen Insektenvernichter, Puder gegen Krätze, mehrere Flaschen mit Lotion gegen Kopfläuse und zwei Flohhalsbänder für Hunde.
Er stopfte alles in seine Reisetasche und wandte sich dem Army-Shop zu. Der Laden erwies sich als eine Art Höhle des Ali Baba in einer militärischen Variante. Überall stapelten sich khakifarbene Klamotten, Decken mit Tarnmuster, Schutzfolien, Stichwaffen und Schuhwerk für Extrembedingungen. Der Inhaber, offenbar ein ehemaliger Legionär in Muskelshirt und mit tätowierten Oberarmen, passte haargenau in dieses Umfeld.
»Ich möchte mir gern Ihre abgetragensten Sachen ansehen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte der Muskelmann misstrauisch.
»Ich bin auf ein Kostümfest eingeladen und will als Clochard gehen.«
Der Mann bedeutete Freire, ihm zu folgen. Sie durchquerten ein Labyrinth von Fluren mit weiß gestrichenen Ziegelwänden. Es roch nach Filz, Staub und Naphthalin. Schließlich stiegen sie eine Betontreppe hinunter.
Der Ladeninhaber knipste das Licht an. Sie standen in einem riesigen, weiß gekalkten Raum. Der Teppichboden lag lose auf dem Estrich.
»Das Zeug hier ist nicht an den Mann zu bringen«, sagte der Legionär und zeigte auf einen Haufen Kleidungsstücke. »Suchen Sie sich etwas aus. Aber ich warne Sie – ich lasse nicht mit mir handeln.«
»Schon gut.«
Der Tätowierte ließ Freire mit den Lumpen allein. Die Auswahl fiel nicht schwer.
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