Der Ursprung des Bösen
einem Notaufnahmelager. Da pennen bis zu vierhundert Typen jeden Abend; du kannst dir also vorstellen, was da abgeht.«
Vierhundert Penner unter einem Dach. Janusz konnte sich nichts Besseres und gleichzeitig Schlimmeres vorstellen. Einer würde ihn sicher wiedererkennen und ihm Informationen über Victor Janusz geben können. Bernard schüttelte das Plastikfässchen mit enttäuschter Miene.
»Hast du Knete, um uns noch was zu trinken zu kaufen?«
»Schon möglich.«
»Okay, ich komme mit.«
Bernard versuchte aufzustehen, aber außer einem lauten Furz kam nichts dabei heraus. Janusz spürte Hass in sich auflodern. Nachdem er zunächst Angst und Ekel empfunden hatte, erfüllte ihn jetzt eine wütende Aversion gegen diese verkommenen Kreaturen.
Die Heftigkeit seines Gefühls gab ihm zu denken. Warum verabscheute er die Obdachlosen? Gab es dafür vielleicht einen triftigen Grund? Und wie weit ging dieser Hass? War er so stark, dass er dafür einen Mord begehen würde?
»Nicht weit von hier ist ein Supermarkt«, erklärte Bernard, als er schließlich stand.
Beunruhigt trottete Janusz hinter ihm her. Unterwegs wiederholte er für sich die Worte, die er Anaïs Chatelet geschrieben hatte:
Ich bin kein Mörder .
E s war Mittag. Anaïs fuhr mit Le Coz in Richtung Biarritz. Fast die ganze Nacht hindurch hatte sie die Fahndung überwacht. Jede Gruppe und jede Straßensperre standen in permanentem Kontakt mit einer Zentralstelle bei der Polizei. In Bordeaux hatte man sämtliche Tankstellen, Obdachlosenasyle, leer stehende Häuser und jeden nur erdenklichen Unterschlupf durchsucht. Die Polizei in Marseille überwachte Bahnhöfe und Flughäfen, für den Fall, dass Janusz Heimweh bekam – was Anaïs allerdings nicht glaubte.
An der Fahndung waren jetzt dreihundert Polizisten von sämtlichen Dienststellen beteiligt. Hauptkommissarin Chatelet war in einer einzigen Nacht von der Gruppenchefin zur Oberbefehlshaberin einer Armee avanciert.
Und doch war alles umsonst gewesen.
Sie hatten nicht die kleinste Spur gefunden.
Um ihr Gewissen zu beruhigen, ließ sie sowohl sein Haus als auch sein Büro in der Klinik überwachen, ebenso wie seine Bankkonten, seine Kreditkarte und seinen Telefonvertrag. Aber Anaïs wusste, dass sich dort nichts tun würde. Janusz hatte sich abgesetzt. Und er würde keinen Fehler begehen. Schließlich hatte sie live miterlebt, wie intelligent dieser Mann war.
In der vergangenen Nacht, während sie die Fahndung überwachte und gegen ihre Müdigkeit ankämpfte, hatte sie eigene Ermittlungen über den Mann mit den zwei Gesichtern angestellt und die Lebensläufe von Mathias Freire und Victor Janusz durchforstet. Im Fall des Obdachlosen ging es recht schnell. Er war nirgends gemeldet und hatte keinerlei Papiere. Anaïs hatte mit den Polizisten gesprochen, die bei der Festnahme von Janusz in Marseille dabei gewesen waren. Sie erinnerten sich an einen streitsüchtigen Außenseiter. Er war sehr schmutzig und hatte eine lange Schnittwunde am Schädel. Man brachte ihn ins Krankenhaus, wo ein Blutalkoholgehalt von drei Komma sieben Promille gemessen wurde. Er nannte sich Victor Janusz, besaß aber keine Papiere, die seine Identität bewiesen. Offiziell hatte Victor Janusz also lediglich während der wenigen Stunden seines Aufenthalts im Polizeigewahrsam in Marseille existiert.
Der Psychiater hatte mehr Spuren hinterlassen. Anaïs war in die psychiatrische Spezialklinik Pierre-Janet gefahren und hatte seine Personalakte durchgelesen. Sämtliche Diplome, Beschäftigungsverhältnisse und Zeugnisse der vorigen Dienststelle waren dort aufgeführt und schienen in Ordnung zu sein. Und doch war alles gefälscht.
Gleich am Morgen hatte sie bei der Ärztekammer angerufen und erfahren, dass es in ganz Frankreich nie einen Psychiater namens Mathias Freire gegeben hatte. Im Übrigen auch keinen Allgemeinmediziner. Ein Anruf bei der psychiatrischen Klinik Paul-Giraud in Villejuif ergab, dass man dort nie von einem Freire gehört hatte.
Aber wie war Janusz an die Dokumente gekommen?
Woher hatte er gewusst, dass die Klink Pierre-Janet einen Psychiater suchte?
Um neun Uhr morgens war sie erneut in die Klinik gefahren und hatte sämtliche Ärzte zusammengetrommelt. Niemand hatte den geringsten Verdacht geschöpft. Freire war diskret und professionell, allerdings ein Einzelgänger. Sein Verhalten hatte keinen Anlass zu Argwohn gegeben, und sein Wissen galt als äußerst fundiert. Anaïs kam eine verrückte Idee: Womöglich
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