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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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langen, sehr langen Schluck genehmigte. Mit zufriedenem Lachen musterte er Janusz ein wenig aufmerksamer als zuvor. Er schien sich zu fragen, mit wem er es zu tun hatte. War der Neue gefährlich oder nicht? Ein Junkie? Oder ein entlaufener Irrer? Schwul? Aus dem Knast entlassen?
    Janusz rührte sich nicht. Die wenigen Sekunden waren sein Passierschein. Er war zwar schmutzig und ungekämmt, trug aber nicht wie alle anderen sein Haus und seinen Hausrat mit sich herum. Außerdem waren seine Hände und sein Gesicht zu gepflegt, um echt zu wirken.
    »Wie heißt du?«
    »Victor.«
    Er griff nach dem Weinbehälter und tat, als würde er trinken. Allein beim Geruch des Fusels wurde ihm wieder schlecht.
    »Ich bin Bernard. Woher kommst du?«
    »Aus Bordeaux«, gab Janusz prompt zurück.
    »Ich stamme aus dem Norden. Wir alle hier stammen aus dem Norden. Wenn schon obdachlos, dann wenigstens in der Sonne.«
    Dann ist Marseille also eine Art Katmandu für Clochards, dachte Janusz. Eine Endstation, ein Schlusspunkt ohne Hoffnung und ohne Ziel, aber wenigstens wurden die Winter hier nicht zu hart. Im Augenblick allerdings ließ die sprichwörtliche Milde sehr zu wünschen übrig. Die Temperatur hatte die Null-Grad-Marke sicher noch nicht geknackt. Janusz, dessen Klamotten immer noch feucht von Wein und Erbrochenem waren, schlotterte vor Kälte. Gerade wollte er eine weitere Frage stellen, als ihn zwischen den Beinen etwas kitzelte. Er machte eine unbedachte Handbewegung und wurde gebissen. Eine Ratte huschte davon.
    Bernard lachte laut auf.
    »Mann, bist du blöd! Ratten gibt es hier wie Sand am Meer, und natürlich beißen sie, wenn du nach ihnen schlägst. Aber die Viecher sind doch unsere Kumpel!«
    Er griff nach dem Plastikfässchen und genehmigte sich einen tiefen Schluck auf das Wohl der Millionen Ratten von Marseille. Dann wischte er sich den Mund ab und verfiel wieder in Schweigen.
    Janusz startete den ersten Versuchsballon.
    »Wir kennen uns doch, oder?«
    »Keine Ahnung. Wie lange bist du schon in Marseille?«
    »Ich bin gerade erst zurückgekommen, aber Weihnachten war ich hier.«
    Bernard antwortete nicht, sondern beobachtete die Passanten. Sobald sich ein Fußgänger unter die Arkaden verirrte, schepperte er automatisch mit seiner Büchse.
    »Bist du schon lang auf der Straße?«, erkundigte sich Bernard.
    »Seit einem Jahr ungefähr«, improvisierte Janusz. »Ich konnte keine Arbeit finden.«
    »Ja klar, wie wir alle.« Bernard lachte auf.
    Janusz verstand den Sarkasmus. Opfer der Gesellschaft . Wahrscheinlich warteten alle Außenseiter mit der gleichen Entschuldigung auf, obwohl niemand daran glaubte. Bernards Auflachen bedeutete fast das Gegenteil: Eigentlich war die Gesellschaft das Opfer.
    »Wie alt bist du?«, wagte Janusz sich weiter vor.
    »Um die fünfunddreißig.«
    Victor hätte ihn auf mindestens fünfzig geschätzt.
    »Und du?«
    »Zweiunddreißig.«
    »Scheiße, das Leben hat dir ganz schön übel mitgespielt.«
    Janusz nahm die Feststellung als Kompliment. Er wirkte offenbar überzeugender, als er geglaubt hatte, fühlte sich aber auch mit jeder Sekunde abgetakelter und schmutziger. Wenn er sich noch ein paar Tage draußen herumtrieb, auf dem Boden herumsaß und sich mit diesen Monstern den Krätzer teilte, würde er wirklich einer von ihnen werden.
    Bernard gönnte sich einen weiteren Schluck. Er legte eine zunehmend aggressive Fröhlichkeit an den Tag. Längst hatte Janusz das Prinzip begriffen. Die Leute soffen sich ihr desaströses Leben schön. Sie kippten ihren Sprit, bis sie irgendwann nur noch dahindämmerten und nichts mehr spürten. Und nach dem Aufwachen ging es wieder von vorn los.
    Janusz stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung der Arkaden. Bewusst setzte er sich den Blicken der anderen aus, aber niemand erkannte ihn. Keiner reagierte. Er war auf dem falschen Weg. Dieser Gruppe hatte er nie angehört.
    Schließlich setzte er sich wieder neben Bernard.
    »Viele sind ja heute Morgen nicht hier.«
    »Meinst du Berber?«
    »Klar.«
    »Du machst wohl Witze. Wir sind schon viel zu viele. Zum Betteln braucht man ein ruhiges Eckchen, und zwar allein. Ich haue auch gleich ab.« Plötzlich wurde er merkwürdig nervös. »Zum Teufel, schließlich muss ich arbeiten.«
    Janusz würde also im Lauf des Tages nur vereinzelte Obdachlose antreffen, die sich bemühten, Passanten ein paar Münzen aus den Taschen zu leiern.
    »Wo übernachtest du derzeit?«, erkundigte er sich.
    »In La Madrague in

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