Der Ursprung des Bösen
war Freire tatsächlich ausgebildeter Psychiater. Aber wo und unter welchem Namen hatte er studiert und praktiziert?
Die nächste Spur war der Volvo gewesen. Anaïs hatte den Verkäufer ermittelt. Beim Kauf des Kombis hatte Freire sich mit seinem Führerschein ausgewiesen und bar bezahlt. Dabei stellte sich nebenbei die Frage, woher das Geld kam, wenn er noch einen Monat zuvor obdachlos gewesen war. Eine Nachfrage beim Zentralregister ergab, dass nie ein Führerschein auf den Namen Mathias Freire ausgestellt worden war. Die Wagenpapiere waren nie umgeschrieben worden, und es war auch nie eine Versicherung für das Auto bezahlt worden.
Anaïs erkundigte sich bei seiner Bank und bei dem Verwalter, von dem er das Haus gemietet hatte. Alles war in Ordnung. Freire besaß ein Girokonto, auf das sein Gehalt überwiesen wurde. Bei der Anmietung des Hauses hatte er makellose Papiere vorgewiesen. »Er hat mir frühere Gehaltsnachweise und seine letzte Steuererklärung vorgelegt«, sagte der Makler. Aber es waren Fotokopien gewesen, die sich leicht fälschen ließen.
Zum wohl tausendsten Mal fragte sich Anaïs, wie sie ihren Verdächtigen einschätzen sollte. War er ein Mörder? Ein Hochstapler? Betrüger? Oder selbst schizophren? Warum war er am Abend zuvor in ihr Büro gekommen? Um sich festnehmen zu lassen? Um ihr Informationen zu geben, die seine Unschuld bewiesen? Um ihr von dem Mord an Patrick Bonfils und Sylvie Robin zu erzählen?
Sie dachte an den Zettel, den er ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ich bin kein Mörder . Das Problem dabei war, dass sie es trotzdem glaubte. Freire war aufrichtig. Sein Instinkt sagte ihm, dass er nicht simulierte, wenn er den Psychiater spielte. Er simulierte auch nicht, als er Stein und Bein schwor, dass Patrick Bonfils unschuldig war und dass er ihm helfen wolle herauszufinden, was er in der Nacht auf den 13. Februar am Bahnhof Saint-Jean gesehen hatte. Hätte er selbst den Mord begangen, wäre diese Vorgehensweise völlig unlogisch gewesen. Niemand suchte Beweise gegen sich selbst. Aber was war es dann? Hatte er vielleicht selbst das Gedächtnis verloren?
Zwei Menschen ohne Gedächtnis – das war eine ganze Menge für einen einzigen Bahnhof.
Die Ausfahrt Biarritz wurde angekündigt. Anaïs konzentrierte sich auf den anderen Aspekt des Falles, der nun wirklich zu gar nichts passen wollte. Warum waren Patrick Bonfils und Sylvie Robin ermordet worden? Wer fühlte sich von einem verschuldeten Fischer und seiner Lebensgefährtin bedroht?
Seit dem Abend zuvor versuchte Anaïs Verbindung zu den Gendarmen im Baskenland aufzunehmen, die in diesem Fall ermittelten. Der Gruppenchef, ein gewisser Martenot, hatte sie nicht zurückgerufen. Um elf Uhr morgens, nach einer ausgiebigen Dusche, beschloss Anaïs, zusammen mit Le Coz selbst nach Guéthary zu fahren.
»So ein Mist!«
In der Ausfahrt hatte sich ein Stau gebildet. Anaïs stieg aus dem Auto. Das Wetter war schauderhaft – düsterer Himmel, Eiseskälte und peitschende Regenschauer. Sie schirmte die Augen mit einer Hand ab und entdeckte in einiger Entfernung eine von Gendarmen errichtete Straßensperre.
»Soll ich die Sirene einschalten?«, fragte Le Coz.
Anaïs antwortete nicht. Sie versuchte einzuschätzen, was da vor sich ging. Das war keine einfache Straßensperre. Die Polizei hatte Nagelgurte ausgelegt und die Straße zusätzlich mit querstehenden Fahrzeugen blockiert, deren Blaulicht sich stumm drehte. Und auch die Beamten an der Sperre waren keine einfachen Gendarmen. Sie trugen schwarze Uniformen, kugelsichere Westen und Helme mit Visier. Die meisten von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Anaïs beugte sich zu Le Coz hinunter. »Ich gehe zu Fuß hin«, sagte sie. »Sobald ich dir ein Zeichen gebe, kommst du nach.«
Fröstelnd setzte sie die Kapuze der Jacke auf, die sie unter ihrem Lederblouson trug, und ging an der Wagenschlange entlang. Unterwegs nahm sie ein paar Schlucke Hustensaft. Als sie sich den bewaffneten Männern näherte, schwenkte sie ihre Polizeimarke.
»Hauptkommissarin Anaïs Chatelet, Kripo Bordeaux«, rief sie.
Die Männer antworteten nicht. Mit ihren Visieren sahen sie aus wie Killermaschinen, schwarz und unergründlich.
»Wer hat hier das Sagen?«
Niemand antwortete ihr. Der Regen wurde stärker und strömte über die Visiere.
»Verdammt noch mal, wer ist hier der Boss?«
Ein Mann in einer Gore-Tex-Jacke trat auf sie zu.
»Ich. Polizeihauptmeister Delannec.«
»Was soll der Auftrieb
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