Der Ursprung des Bösen
Zunächst jedoch zog er sich aus, puderte seinen Körper mit dem Insektenpulver, rieb sich mit dem Mittel gegen Krätze ein und befestigte eines der Flohhalsbänder an einem Arm, das andere an einem Bein. Erst dann schlüpfte er in eine abgetragene, zerlumpte Drillichhose, zog drei fadenscheinige, durchlöcherte und zerfledderte Sweatshirts übereinander und toppte das Ganze mit einem möglicherweise noch zerfetzteren dunkelblauen Pullover. Außerdem suchte er sich einen schwarzen Anorak aus, der früher einmal gesteppt gewesen war, sowie harte Springerstiefel, die mit ihren aufgeplatzten Kuppen wie Krokodile aussahen. Nur bei den Socken geizte er nicht. Sie waren dick, warm und ohne Löcher. Zum Schluss setzte er sich eine Seemannsmütze mit dünnen blauen und weißen Streifen auf.
Er betrachtete sich im Spiegel.
Es sah nicht echt aus.
Die Kleider waren zwar alt, aber sauber. Und auch ihm selbst, seinem Gesicht, seiner Haut und seinen Händen sah man die Bürgerlichkeit an. Dagegen würde er etwas tun müssen, ehe er sein Pennerleben begann. Er suchte seine eigenen Kleider zusammen, packte sie in die Reisetasche und stieg die Treppe hinauf.
Der Legionär erwartete ihn hinter der Ladentheke. Vierzig Euro sollte der Spaß kosten.
»Wollen Sie etwa so auf die Straße gehen?«
»Klar. So kann ich testen, wie glaubwürdig ich wirke.«
Freire zückte eben sein Geld, als er auf einem Ständer neben der Kasse blitzende Kampf- und Klappmesser entdeckte.
»Können Sie mir eins von denen empfehlen?«
»Wollen Sie als Penner oder als Rambo gehen?«
»Ich suche schon ziemlich lang nach einem guten Messer.«
»Für welchen Zweck?«
»Für die Jagd und für Waldspaziergänge.«Der Muskelmann reichte ihm ein Messer, das so lang war wie sein Unterarm.
»Dann nehmen Sie das Eickhorn KM 2000. Das beste Überlebensmesser überhaupt. Halbgezahnte Edelstahlklinge. Polyamidverstärkter Glasfasergriff mit integriertem Nothammer zum Zertrümmern von Glas. Mit diesem Schmuckstück hat Eickhorn in Solingen die Eingreiftruppen der deutschen Bundeswehr ausgestattet – also Qualität auf der ganzen Linie.«
Der Tätowierte schien seit Ewigkeiten nicht mehr so viel gesagt zu haben. Freire betrachtete das Messer. Die gezahnte Klinge blinkte wie ein mörderisches Grinsen.
»Haben Sie nichts Diskreteres?«
Der Legionär warf ihm einen konsternierten Blick zu, ehe er zu einem Klappmesser griff und es aufschnappen ließ.
»Das PRT VIII. Auch von Eickhorn in Solingen. Der Griff ist aus schwarzem, eloxiertem Aluminium mit einer Spitze zum Zertrümmern von Glas und einem Spezialmesser für Sicherheitsgurte. Diskret, aber sehr solide.«
Freire prüfte das Messer, das gut zehn Zentimeter kürzer war als das erste und das er sehr viel leichter verstecken konnte. Er hantierte damit herum und wog es in der Hand.
»Wie viel?«
»Neunzig Euro.«
Freire zahlte, klappte das Messer wieder zusammen und ließ es in seine Anoraktasche gleiten.
Er trat auf die sonnenbeschienene Straße hinaus und ging zurück in Richtung Bahnhof. Die Anzahl der Treppenstufen zum Bahnhof hinauf schien sich verdoppelt zu haben. In der Halle erkundigte er sich nach den Schließfächern. Auf dem Weg dorthin schien es ihm, als wären inzwischen weniger Polizisten und Sicherheitsleute im Einsatz. Aber es gab auch weniger Reisende.
Er ging den Bahnsteig entlang und fand die Schließfächer. Um jedoch in die Halle zu gelangen, musste er durch eine Sicherheitsschleuse, die mit Metalldetektoren und Kameras ausgestattet war. Das einzuschließende Gepäck wurde mit Röntgenstrahlen durchleuchtet. Freire drehte um, kramte verstohlen sein Messer aus der Tasche und versteckte es hinter einer Bank.
Dann trat er mit gesenktem Kopf in die Schleuse und legte seine Reisetasche und seinen Laptop auf das Band. Der Sicherheitsbeamte telefonierte gerade, er schenkte seinem Bildschirm nur einen zerstreuten Blick und winkte Freire durch. Der ging weiter durch die Torsonde und löste dabei ein ohrenbetäubendes Piepsen aus, doch niemand durchsuchte ihn. Mit einem flüchtigen Blick auf die Kameras nahm er sein Gepäck vom Band. Falls die Bänder noch im Lauf dieses Tages überprüft wurden, war er geliefert.
Der fensterlose Raum mit den Schließfächern erinnerte an ein Schwimmbad. Die Wände verschwanden unter grauen Fächern, der Boden war aus Linoleum. Freire verstaute Reisetasche und Laptop im Fach 09A. Dann nahm er seine Armbanduhr ab und legte sie zusammen mit seiner Bankkarte und
Weitere Kostenlose Bücher