Der Ursprung des Bösen
Erniedrigung, das düstere Wetter – es war kaum zwei Uhr nachmittags, aber es dämmerte bereits –, die Kälte und die Gleichgültigkeit der Passanten erschienen ihm wie ein Abgrund, in den er immer tiefer hineinrutschte.
Die Frau schleppte sich auf den Bürgersteig und flüchtete sich unter einen Torbogen neben einem Schnellrestaurant. Janusz zwang sich, sie zu beobachten. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verschwollen, die Augen waren blutunterlaufen. Von ihren aufgeplatzten Lippen triefte rötlicher Schaum. Sie hustete und spuckte Zahntrümmer aus. Schließlich setzte sie sich auf die Außentreppe eines Gebäudes. Während sie darauf wartete, weggejagt zu werden, hielt sie ihr Gesicht in den Wind, um ihre Wunden zu trocknen.
»Sie ist selbst schuld«, schimpfte Bernard.
Janusz antwortete nicht. Bernard fuhr in seinen Erklärungen fort. Nénette, das Opfer, war die »Frau« von Titus, dem Schwarzen. Er verlieh sie gegen ein paar Münzen, Restaurant-Tickets oder Tabletten an andere Männer. Janusz verstand nicht, wie ein derart besoffenes Wrack auch nur das leiseste Begehren wecken konnte.
»Ja und?«, erkundigte er sich.
»Sie ist zu den anderen gegangen.«
»Welchen anderen?«
»Eine andere Clique im Viertel Panier. Sie hat es dort umsonst getan. Na ja, ganz sicher ist das nicht, aber Titus ist eben wahnsinnig eifersüchtig.«
Janusz beobachtete das blutüberströmte Weib. Irgendwo hatte sie eine Weinflasche herbekommen und verabreichte sich eine Dröhnung als erste Hilfe. Ihre Züchtigung schien sie längst vergessen zu haben.
Die Gesellschaft der Straße war eine Gesellschaft der Gegenwart.
Ohne Erinnerungen und ohne Zukunft.
»So ist das nun mal«, meinte Bernard. »Wir haben nichts zu tun, also prügeln wir uns.«
Und wir saufen , fügte Janusz innerlich hinzu. Nach seinen Berechnungen musste Bernard inzwischen fast fünf Liter intus haben. Und die anderen standen ihm in nichts nach. Jeder von ihnen konsumierte über den Tag verteilt zwischen acht und zwölf Liter Wein.
»Komm«, sagte der Clochard, »wir verschwinden. Hier sind schon zu viele. Und man sollte nicht immer dieselbe Kundschaft anöden.«
Natürlich empfand Bernard keine Zuneigung für Janusz. Er duldete ihn, weil der Neue schon drei Flaschen hatte springen lassen. Regel eins: Wenn ein Penner dir die Hand reicht, tut er es nur, weil eine Bezahlung auf ihn wartet. Und die Bezahlung erfolgt grundsätzlich in Form von Wein.
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Ein feuchter, durchdringender Seewind zerrte an ihnen. Janusz fror bis auf die Knochen. Seine Hände waren zu Eisklötzen erstarrt. Mit tränenden Augen folgte er Bernard, ohne viel wahrzunehmen. Nur beim Anblick von Polizisten erschrak er noch immer. Bei jeder Sirene und bei jedem Polizeiauto senkte er den Kopf. Er hatte nicht vergessen, wer er war. Eine Beute. Ein Verdächtiger auf der Flucht. Ein Schuldiger, der sich immer tiefer verstrickte. Seine Tarnung und seine Fluchtburg waren Elend, Dreck und billiger Wein. Aber für wie lange noch?
Auf einem kleinen Platz ließen sie sich nieder. Janusz hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, aber es war ihm auch egal. Die Apathie seiner Schicksalsgenossen begann, auf ihn überzugreifen. Er wurde gefühllos, langsam und scheu. Ohne seine Uhr fing er an, jeden Begriff von Zeit und Raum zu verlieren.
Das Rasseln von Bernards Blechbüchse rief ihn in die Gegenwart zurück. Sein Kumpel hatte die Schuhe ausgezogen und seine beiden schwärzlichen Zehen entblößt.
»Bitte um eine milde Gabe für einen Bergsteiger …«
Nach und nach tauchten noch weitere Penner auf. Bernard wurde wütend. Die Männer waren so betrunken, dass sie nicht mehr bettelten, sondern die Kundschaft verscheuchten. Ein Typ rieb sein Gesicht am Asphalt und riss sich die Haut auf. Einem anderen hing der Pimmel aus der offenen Hose. Er verfolgte auf allen vieren einen Kumpel und versuchte, ihm sein Geschlecht in den Mund zu pressen. Ein Stückchen weiter stand ein Einzelgänger und schimpfte vor sich hin, hielt einer Mauer feierliche Vorträge, redete mit dem Bürgersteig und drohte dem Himmel.
Janusz beobachtete sie ohne Mitleid und ohne Wohlwollen. Im Gegenteil. Immer noch empfand er diesen Hass, der ihn seit dem Morgen nicht verlassen hatte. Er war sich ganz sicher, dass er die Obdachlosen auch schon verabscheut hatte, als er noch wirklich Victor Janusz war. Der Hass hatte ihn aufrechterhalten und ihm das Überleben gesichert. Aber war er auch stark
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