Der Ursprung des Bösen
hier?«
»Befehl von oben. Hier in der Gegend treibt sich irgendwo ein Flüchtiger herum.«
Anaïs streifte die Kapuze ab. Der Regen prasselte ihr auf die Stirn.
»Der Flüchtige ist mein Hauptverdächtiger. Aber bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir von seiner Unschuld ausgehen.«
»Der Kerl läuft Amok!«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Er hat einen Obdachlosen in Bordeaux umgebracht und hier in Guéthary zwei Unschuldige massakriert. Außerdem ist er Psychiater.«
»Na und?«
»Die Typen gehören doch meistens selbst in die Zwangsjacke.«
Anaïs ignorierte diese Bemerkung.
»Ich habe einen Termin mit Ihrem Chef Martenot. Kann ich durchfahren?«
Der Name wirkte wie ein »Sesam, öffne dich«. Anaïs winkte Le Coz, der die Auffahrt entgegen der Fahrtrichtung hinunterfuhr. Sie sprang in den Wagen und bedankte sich mit einem Handzeichen bei dem Idioten in Uniform.
»Ist es wegen Janusz?«, fragte Le Coz.
Anaïs nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Er sagte Janusz, sie dachte Freire. Und genau dort lag der Unterschied. Erneut sah sie ihn vor sich, mit seiner Cola Zero in der Hand. Seinen schwarzen Haaren. Seinen müden Gesichtszügen. Er war wie Odysseus nach seiner Rückkehr – erschöpft und geschwächt, aber gleichzeitig verschönt und bereichert durch das, was er gesehen und erlebt hatte. Ein Mann mit der Aura einer antiken Skulptur. Wie herrlich musste es sein, sich in diese Arme zu flüchten.
Plötzlich fiel ihr etwas ein.
An jenem Abend hatte Freire ihr auf der Schwelle seines Hauses zugeflüstert:
»Ein Mord ist ein ziemlich ungewöhnlicher Grund, sich kennenzulernen.«
»Alles hängt davon ab, was anschließend passiert.«
Das Fragezeichen zwischen ihnen blieb in der Luft hängen wie der Atemhauch vor ihren Lippen.
Das Schicksal hatte ihnen ziemlich übel mitgespielt.
H alt dich bloß da raus.«
Die Frau bekam gerade den dritten Schlag auf das Kinn, fiel aber noch immer nicht um. Da verpasste ihr der Mann einen Schwinger in den Bauch. Der Oberkörper der Frau kippte nach vorn. Sie schien ihren eigenen Schrei zu verschlucken.
Das Prügelopfer wirkte abgetakelt, aufgedunsen und schmutzig. Ein dunkelrotes Gesicht unter fettigen Haaren, undefinierbares Alter. Der Angreifer, ein Schwarzer mit Kappe, ballte beide Hände zusammen und ließ sie mit voller Wucht auf den Nacken des Opfers krachen. Die Frau brach zusammen. Endlich. Noch einmal bäumte sie sich auf und übergab sich.
»Alte Sau! Das ist ja ekelhaft!«
Jetzt hagelte es Fußtritte. Janusz stand auf. Bernard hielt ihn am Arm zurück.
»Lass das! Was geht dich das an?«
Janusz ließ sich wieder fallen. Das Schauspiel war unerträglich. Die Alte hatte einen lahmen Arm, mit dem anderen versuchte sie ihr Gesicht zu schützen. Sie ertrug die Tritte ohne einen Laut, zuckte aber bei jedem Treffer zusammen.
Seit vier Stunden begleitete Janusz Bernard durch die Stadt und wurde gerade Zeuge der dritten Schlägerei. Sie waren von einer Gruppe zur nächsten gewandert. Janusz kam es vor, als hätte er Scheiße in der Lunge, Pisse in den Nasenlöchern und Dreck in der Kehle.
Zunächst waren sie zur Place Victor Gélu gegangen, wo sich Obdachlose unter den Torbögen drängten. Niemand hatte Janusz erkannt. Er hatte eine Runde ausgegeben und Fragen gestellt, aber keine Antworten bekommen. Die nächste Station war das Théâtre du Gymnase ein Stück weiter oben auf der Canebière. Doch dort waren sie nicht lange geblieben, denn auf den Stufen lungerten junge Aussteiger herum, die gerade einem Neuankömmling eine ordentliche Abreibung verpassten. Weiter ging es durch schmale Gässchen bis zur Rue Curiol, dem Transenviertel der Stadt.
Schließlich ließen sie sich vor der Kirche Saint-Vincent-de-Paul nieder, wo die Canebière und die Allée Léon Gambetta zusammentreffen. Hier wimmelte es von Obdachlosen. Sie saßen auf den Stufen und tranken, pinkelten vor die Kirche und musterten Passanten mit herausfordernden Blicken. Die seit dem Morgengrauen betrunkenen Männer schienen ohne Weiteres bereit, sich für einen Euro, eine Zigarette oder einen Schluck Rotwein gegenseitig umzubringen.
Doch auch hier hatte niemand Janusz erkannt. Allmählich begann er zu bezweifeln, dass er sich je zuvor in Marseille aufgehalten hatte. Aber er fühlte sich zu erschöpft, um weiterzulaufen.
Die Prügelei war vorüber. Die Frau lag in einer Lache aus Blut und Erbrochenem auf dem Boden.
Schlimmer kann auch die Hölle nicht sein, dachte Janusz. Die
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