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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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diese Uhrzeit war das nicht genau zu erkennen. Eine Autobahnbrücke überspannte die Straße wie ein Drache, der eine alte Stadt bedroht. Alles war stockfinster, bis auf einen hell angestrahlten, hohen Gitterzaun, auf dem in großen Lettern das Wort NOTAUFNAHMELAGER prangte. Vor dem Tor drängte sich eine laute, wild gestikulierende Menschenmenge.
    »Das ist La Madrague, mein Lieber«, sagte Bernard. »Tiefer kann man nicht mehr sinken. Jeder darf rein, außer Kindern. Danach gibt es nur noch den Friedhof.«
    Janusz antwortete nicht. Das Schauspiel faszinierte ihn. Vor dem Gitter standen Männer in schwarzen Overalls mit Leuchtstreifen. Ihre Gesichter waren vermummt, sie trugen Handschuhe und kontrollierten die Eingänge. Über ihnen, auf dem Dach eines der Gebäude, bellten Hunde in einem Käfig. Vermutlich waren es die Hunde der Obdachlosen, doch Janusz musste unwillkürlich an Zerberus denken, den dreiköpfigen Höllenhund, der das Tor zur Unterwelt bewachte.
    »Endstation! Alles aussteigen!«
    Alle standen auf, griffen nach ihren Bündeln und verließen den Bus. Flaschen rollten über den Fahrzeugboden und durch die Urinpfütze.
    »Jetzt sind nur noch Leichen hier«, unkte der Sänger. »Flaschenleichen.«
    Beglückt über seinen Scherz sauste er mit gesenktem Kopf wie ein Rugbyspieler zwischen den anderen hindurch, schubste sie zur Seite und gab damit Anlass zu lautstarkem Protest. Die Passagiere stiegen aus, purzelten aus dem Wagen, verteilten sich. Es sah aus, als hätte man eine Mülltonne auf den Bürgersteig geleert. Vermummte Männer warteten bereits mit einem Hochdruckreiniger, um die Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen.
    Vor dem Zaun herrschte das absolute Chaos.
    Einige Männer versuchten sich ihren Weg mit Gewalt zu bahnen, indem sie ihren Einkaufswagen oder ihre Bündel vor sich herschoben. Andere hieben mit Krücken auf das Gitter ein. Wiederum andere brachten die Hunde in Rage, indem sie Getränkedosen über die Absperrung warfen. Die Sozialarbeiter bemühten sich, ein wenig Ordnung in den Trubel zu bringen und die Männer der Reihe nach durch den Eingang zu lotsen. Durch das nur halb geöffnete Tor passte immer nur eine Person.
    Janusz war ein Teil des Getümmels. Er senkte den Kopf, zog die Schultern hoch und versuchte zu vergessen, wo er sich befand. Zumindest war ihm nicht mehr kalt. Die nachrückenden Männer drängten ihn gegen das Gitter und zerquetschten ihn fast. Durch die Gitterstäbe konnte er sehen, dass die Warteschlange sich durch den gesamten Innenhof bis zum ersten Gebäude fortsetzte. Vor dem hell erleuchteten Empfangsbüro prügelte man sich. Flaschen flogen. Männer wälzten sich am Boden.
    Bernard hatte recht gehabt: Er hatte wirklich noch längst nicht alles gesehen.
    »Name?«
    »Michael Jackson.«
    »Papiere?«
    Ein hämisches Lachen war die Antwort. Ein Sozialarbeiter stieß den verlausten Kerl nach rechts. Der nächste Kandidat rückte vor die Sprechluke des Büros.
    »Name?«
    »Sarkozy.«
    Der Mann am Schreibtisch zuckte mit keiner Wimper.
    »Papiere?«
    »Was glaubst du wohl, Blödmann?«
    »Immer schön höflich bleiben.«
    »Geschissen.«
    »Der Nächste.«
    Die Hälfte der Warteschlange hatte Janusz geschafft. Er prägte sich jede Einzelheit ein. Rings um den Hof standen Betonbauten, in der Mitte hatte man Container aufgestellt. Anhand der Typen, die sich um die jeweiligen Blöcke bewegten, konnte man erkennen, wer wohin gehörte.
    In den Containern waren die Frauen untergebracht. Neben alterslosen Tippelschwestern lungerten extrem junge Mädchen herum und rauchten. Sie bewegten sich in dieser Hölle, als wäre es ein Schulhof, und wurden von gut durchtrainierten Sozialarbeitern bewacht und – was noch wichtiger war – beschützt.
    Ein weiterer Wohncontainer am Rand war für Maghrebiner reserviert, die sich mit konspirativen Mienen auf Arabisch unterhielten. Eines der Betongebäude diente den Männern aus Osteuropa als Unterkunft. Hier überwogen die harten, slawischen Laute.
    Mit zusammengekniffenen Augen suchte Janusz nach den drei Rumänen aus dem Jumpy. Schließlich entdeckte er sie. Seelenruhig standen sie vor ihrem Block, rauchten und unterhielten sich mit Landsleuten. Ihre Augen glühten fast so intensiv wie ihre Zigarettenkippen.
    »Ich habe es satt. Einfach satt!«
    Janusz wandte sich um. Eine Frau beleidigte einen Schwarzen mit Schirmmütze. Nénette und Titus. Die Hexe hatte sich wieder erholt und griff nun selbst an. Natürlich fing sie sich sofort

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